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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Vater, seine Bitterkeit, seine Zigaretten-und-Fernseher-Existenz und seine Hoffnung, Leo könnte es weiter bringen als er. Ja, wollte er zu seiner Frau sagen, genau das ist es. Denn wie sollte er es sonst sagen? Wie sollte er sonst zugeben, dass er nach einem Jahr … Nein. Mehr. Nach fast zwei Jahren. Wie sollte er sonst zugeben, dass er fast zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters immer noch nicht weitergekommen war? Immer noch keinen Weg sah?
    Schweigend griff er nach dem nächsten Briefumschlag.
    »Du hast eine Familie, Leo«, sagte Megan nach einer Weile. »Du hast eine Tochter. Seit Matthews Tod hast du bloß noch …«
    »Habe ich bloß noch was?«, fragte Leo aggressiver als beabsichtigt.
    Megan zögerte. »Du willst nicht über deinen Vater reden«, sagte sie. »Verstanden. Aber Ellie hat Angst. Siehst du das denn nicht? Sie hat Angst, wieder zur Schule zu gehen. Ihr Zimmer zu verlassen.«
    »Megan, ich bitte dich. Ellie wird nichts passieren. Ich war doch in der Schule, oder etwa nicht? Ich habe mit der Schulleiterin gesprochen.« Der Umschlag enthielt eine Rückfrage wegen einer Rechnung, die eigentlich direkt in die Verwaltung hätte gehen sollen. Leo warf das gefaltete Blatt auf den Boden.
    »Na dann«, sagte Megan. »Dann ist ja alles in Ordnung. Wenn du in der Schule warst. Mit der Schulleiterin gesprochen hast. Jemand hat deine Tochter mit Blut bespritzt, aber wenn du in der Schule warst, ist ja alles wieder in bester Ordnung.«
    »Es war Tinte! Herrgott noch mal, Meg.« Es gab nur noch einen Umschlag zu öffnen, und Leo machte sich an der Klebelasche zu schaffen. Im Fernsehen hatte die Traueransprache begonnen. Felicitys Tod sei nicht vergebens gewesen, sagte der Pfarrer. Die Gerechtigkeit, so viel stehe fest, werde den Sieg davontragen. Wem Gerechtigkeit widerfahren sollte, sagte er nicht.
    »Was glaubst du denn, Leo? Dass sie davor zurückgeschreckt hätten, sie mit Blut zu übergießen, wenn sie welches gehabt hätten? Dass es für deine Tochter weniger schlimm war, weil es ja bloß so aussah wie Blut? Dass es sie deshalb weniger traumatisiert hat?«
    Traumatisiert. Du meine Güte. In Leos Kopf ratterte es. Er zog an dem Blatt Papier, das im Umschlag festhing.
    »Weißt du, was ich nicht verstehe?« Seine Frau spreizte die Rechte und griff nach irgendetwas Unsichtbarem in der Luft zwischen ihnen. »Was mir einfach nicht in den Kopf will?«
    Leo fragte nicht nach. Er blickte auf die Nachricht in seiner Hand.
    »Dass er es war. Dass du weißt, dass er es war. Er hat dir gesagt, dass er schuldig ist, und trotzdem stellst du sein Wohl über das deiner Tochter.«
    Eigentlich hätte er darauf anspringen und sich ärgern müssen, und beinahe hätte er das auch getan. Aber die Nachricht. Er musste einfach weiter darauf starren.
    »Er hat ein elfjähriges Mädchen ermordet, Leo. Er verdient dich nicht. Womöglich verdient er gar keine Verteidigung, von niemandem!«
    Leo tastete nach dem leeren, aufgerissenen Umschlag, den er beiseitegelegt hatte. Aber die Adresse und auch die Nachricht selbst waren mit der Maschine geschrieben oder gedruckt und gaben keinerlei Hinweise.
    »Jetzt rede gefälligst mit mir, Leo! Ignoriere mich nicht einfach, ja? Wehe, du ignorierst mich einfach.«
    Zwei Sätze. Mehr nicht. Eigentlich kaum zwei richtige Sätze, grammatikalisch gesehen, aber genug, um die Botschaft zu übermitteln. Genug, dass er im Halbdunkel verstand, woher der Wind wehte.
    »Leo!« Megan packte ihn am Arm und zog ihn zu sich herum. »Jetzt antworte mir!«
    Aber Leo sah seine Frau an und wusste nicht, was er sagen sollte.

Sie trottet langsam hinterher, obwohl sie weiß, dass sie in ihrem eigenen Haus eigentlich vorangehen sollte. Der Junge ist es wahrscheinlich anders gewohnt, stellt sie sich vor: dieser Verkäufer, der er ja im Grunde ist, der sich täglich für dumm verkaufen lassen muss. Sehen Sie nur, junger Mann, dieser Boden. Und hier im Bad – das haben wir selbst eingebaut. Im Vergleich dazu muss Megan beinahe feindselig wirken. Zumindest gleichgültig, auch wenn das nicht ihre Absicht ist. Es ist Unsicherheit. Oder Verwirrung. Sie fühlt sich, als würde sie in einem Fass stecken, das einen Hügel hinunterrollt – sie weiß, dass sie etwas angestoßen hat, ist aber zu benommen, um sich zu fragen, wo es hinführen könnte.
    »Großartige Küche.« Der Junge sieht sich um, wippt mit dem Kopf. »Geräumig«, sagt er und notiert sich etwas.
    Megan, die in der Tür steht, geht einen Schritt vor. Als

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