Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Sie weg! Fassen Sie mich nicht an!«
Plötzlich klickte das Schloss, die Zellentür schwang auf und darin stand der Wärter. Als Daniel ihn sah, richtete er sich ruckartig auf. Er stieß einen Schrei aus, und als der Mann einen Schritt nach vorn machte, wich er weiter in die Ecke zurück.
»Ganz ruhig!« Der Wärter hatte eine Hand am Schlagstock, der an seinem Gürtel hing, und streckte die andere gespreizt von sich. »Okay? Ganz ruhig.«
»Lassen Sie mich in Ruhe! Bitte!« Daniel sah Leo flehend an. »Sagen Sie ihm, er soll mich in Ruhe lassen!«
Leo trat einen Schritt vor. »Alles in Ordnung, Officer. Das war nur ein Missver…«
»Schnappen Sie ihn!«, sagte Blake. »Jetzt schnappen Sie ihn sich doch!« Daniels Mutter sprang auf, wollte zu ihrem Sohn, aber Blake versperrte ihr mit den Armen den Weg.
»Nein«, sagte Leo, »nicht!« Er fasste den Wärter an der Schulter, aber der Mann drückte ihn einfach beiseite. Leo versuchte es noch einmal. Er drängte sich zwischen den Jungen und den Wärter, Auge in Auge mit dem erzürnten Mann und hinter sich den panischen Daniel. »Es ist alles in Ordnung. Lassen Sie ihn.«
Der Wärter machte einen Ausfallschritt nach vorn, und Daniel schrie auf. Leo drehte sich um, stolperte und griff instinktiv nach dem Knüppel, um ihn festzuhalten. Er bekam ihn kurz zu fassen und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Arm des Wärters, aber der Mann war stärker, und Leo geriet ins Taumeln. Er wollte noch einmal nach dem Knüppel greifen, fuchtelte mit dem Arm, doch als er gerade wieder zupacken wollte, sah er etwas in einem Bogen auf sein Gesicht zukommen. Dann spürte er einen brennenden, reißenden Schmerz, gefolgt von der Kälte des Betonbodens.
Es war herrlich. Das Licht hatte etwas Zerbrechliches und die Wärme etwas Kostbares. Hier, in der windgeschützten Ecke hinter dem Gebäude, hätte es genauso gut Frühling sein können. Es war sozusagen eine Kostprobe, nur für ihn. Eine Wiedergutmachung.
Er hatte die Augen geschlossen und hielt das Kinn hoch. Um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Aber auch, damit die Blutung aufhörte. Er drückte sich ein Papiertaschentuch auf die Wange und traute sich nicht, es abzunehmen, denn es würde festkleben, und die Vorahnung des Schmerzes war beinahe schlimmer als der Schmerz selbst. Eine richtige Furche, hatte der Wärter mit dem Erste-Hilfe-Koffer gesagt, mit einer Art ehrfürchtigem Abscheu, die ebenso sehr gebrannt hatte wie das Desinfektionsmittel. Mit den Fingernägeln?, hatte er gefragt und den Kopf schief gelegt. Hat der Junge das nur mit den Fingernägeln gemacht? Dann: Kleiner Arsch. Echt, was für ein kleiner Arsch.
An diesem Punkt hatte Leo seine Distanzzone wieder zurückhaben wollen. Er hatte die Besorgnis des Mannes ebenso abgeschüttelt wie sein Drängen, Anzeige zu erstatten, war zu den Toiletten gegangen und danach durch eine Feuertür hinausgeschlüpft. Er wusste nicht so genau, wohin sie ihn geführt hatte. Hinter das Parkhaus, vermutete er: auf eine Betonfläche, von Verkehrslärm ummauert und vom Gestank großer Gewerbemüllcontainer erfüllt. Aber auch ruhig, beruhigend. Wo auch immer er war, es war okay hier.
Ich bin nicht gestört, hatte Daniel gesagt. Ich bin es nicht, und ich sage es auch nicht.
In der Nähe von Reading, wo Leo aufgewachsen war, hatte ein Haus gestanden, ein großes Gebäude. Jetzt waren Wohnungen darin: überteuert und unterbelegt, wie er gehört hatte, was ihn kaum erstaunte. Vor der Renovierung war das Gebäude eine Anstalt gewesen. Die hohen Tore und die wuchtigen Mauern, die jetzt dazu dienten, Menschen auszusperren, waren ursprünglich gebaut worden, um Menschen einzusperren. Wie konnte man – wenn man noch bei Verstand war – dort wohnen wollen? Als Leo und seine Freunde noch klein waren, hatten sie versucht, dort einzubrechen. Nicht richtig natürlich, denn dort hinein wollten sie nun wirklich nicht. Es war ein gruseliger Ort, und genau darin lag der Reiz: in der kribbelnden Angst vor dem, was sich wohl hinter diesen Mauern befand. Manisches Lachen und Glühbirnen, die hin und her schwangen. Kinderfresser, Leute, die mit Scheiße warfen, und Psychiater. Nicht weit davon entfernt gab es auch ein Gefängnis, aber das war nicht annähernd so verlockend. Ein Gefängnis, das war schließlich nichts Besonderes. Nicht im Vergleich dazu.
Leo zog probehalber an dem Papiertaschentuch. Genau wie er befürchtet hatte, klebte es fest. Er zupfte zuerst vorsichtig und
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