Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
aufgesucht hat, um ihre Andacht zu halten, die sie jetzt aber nur noch zum Saubermachen betritt. Sagt sie sich zumindest.
Sie legt das Notizbuch und den Taschenrechner aufs Bett und streicht mit der Hand über das Bettzeug. Sie könnte das Gesicht darin vergraben und tief einatmen – aber das hat sie schon so oft getan, ohne dass es je geholfen hätte.
Sie lässt den Blick über die Bücherregale und die CD-Rücken gleiten, geordnet nach einem Code, den sie längst geknackt hat. Die Musik ist nach Stimmungen sortiert: der größte Teil melancholisch, und nach zornig und empört dünnt sich die Sammlung am Ende zu einem schmalen Streifen beschwingt aus. Die Bücher nach Wert. Nicht einfach nur nach Beliebtheit, die Top 40 eines Teenagers, sondern danach, wie sehr ihre Tochter den Inhalt wertschätzte. Auf dem obersten Regal ganz vorn Wer die Nachtigall stört …; die Knicke im Buchrücken sind mit schwarzem Filzstift übermalt. Daneben T. H. White, L. M. Montgomery und L’Etranger von Albert Camus. Offenbar eine Schulausgabe, immer wieder gelesen und zur Hand genommen. Auf dem unteren Brett noch mehr Montgomery, neben C. S. Lewis, Enid Blyton und einer gebundenen Neuausgabe des Fängers im Roggen, den ihre Tochter aus irgendeinem Grund nicht gemocht hat. Genau wie den Herrn der Fliegen daneben, mit dem auch Megan nie richtig warm geworden ist. Doch ihre Tochter war kategorisch: Nur ein Jahrbuch von Beverly Hills 90210 hat einen noch weniger angesehenen Platz zugewiesen bekommen.
Megan nimmt einen Bleistift aus dem Stiftehalter auf dem Schreibtisch. Sie betrachtet für einen Moment das abgekaute Ende, dann legt sie es auf ihre Zunge. Sie setzt sich auf den Boden und lutscht daran.
Dort hat sie Ellie oft vorgefunden: auf dem Teppich, zwischen dem Schreibtisch und dem Fußende ihres Bettes, mit einem Kissen an die Wand gelehnt und oft mit einem Buch auf den Knien. An anderen Tagen hat sie auch einfach nur dagesessen, wie Megan jetzt, und Musik gehört, die Augen geschlossen oder zur Decke gerichtet. Worüber denkst du nach?, hat Megan von der Tür aus manchmal vorsichtig gefragt. Ihre Tochter hat selten darauf geantwortet. Und wenn, war ihre Antwort kaum je dazu angetan, eine besorgte Mutter zu beruhigen. Nichts. An alles Mögliche. Mach die Tür zu, Mum – bitte.
Ein Holzsplitter löst sich vom Bleistift, und Megan sucht mit dem Finger in ihrem Mund nach dem aufgeweichten Holzstückchen. Es klebt an ihrer Fingerspitze und lässt sich nicht abschütteln, deshalb streift sie es am Griff einer Schublade ab. Dann fasst sie noch einmal den Griff an. Nach einem kurzen Zögern zieht sie daran.
Die Schublade, die oberste von dreien, ist voller Zeitungsausschnitte. Leo hat sie aufbewahren wollen. Typisch, hat Megan gesagt, aber er beharrte darauf, dass sie hilfreich sein könnten. Vielleicht liefern sie irgendeinen entscheidenden Hinweis, sagte er immer wieder. Dass dem nicht so war, verschaffte ihr keinerlei Genugtuung. Sie hätte jeden Teil ihrer selbst geopfert – ihren Stolz, einen Arm oder ein Bein, ja sogar ihr Leben –, wenn Leo dadurch recht behalten hätte.
Sie hat die Zeitungsausschnitte damals nicht gelesen und verspürt auch jetzt keine Lust dazu. Sie will die Schublade schließen, doch mitten in der Bewegung hält sie inne. Warum eigentlich nicht?, denkt sie. Sie zieht die Schublade wieder auf, diesmal ganz, nimmt eine Handvoll Ausschnitte nach der anderen heraus und legt sie alle auf einen Stapel. Ins Altpapier damit, sagt ihr Umweltbewusstsein sofort, aber es gibt sicher noch bessere Möglichkeiten. Schreddern zum Beispiel. Oder verbrennen.
Als die erste Schublade leer ist, schließt sie sie und zieht die nächste auf. Auf einmal von ihrer eigenen Entschlossenheit überrascht, geht sie auf die Knie. Sie wirft die Zeitungsausschnitte in Ellies Papierkorb neben sich und drückt sie hinunter. Sie nimmt einen Hefter aus der zweiten Schublade und ärgert sich, dass er nicht beschriftet ist. Sie öffnet den Deckel, schluckt und schließt ihn wieder. Plakate, ein ganzes Bündel Plakate, mit einem Phantombild des Verdächtigen neben einem Bild von Ellie, in Leos Kanzlei auf ein Paket A4-Papier kopiert. Irgendwann sind keine Laternenmasten mehr frei gewesen.
Daneben ein weiterer Hefter, auch dieser unbeschriftet, diesmal aber leer. Die alte Pappe lässt sich leicht zerreißen, und Megan drückt die Fetzen auf die Plakate und die Zeitungsausschnitte. Der Papierkorb ist schon halb voll.
Die
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