Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
nächsten drei Hefter kann sie nicht wegwerfen, sie bringt es nicht übers Herz. Sie sind voller Briefe, ohne die Umschläge, um Platz zu sparen. Leo hat sie einmal gezählt. Megan weiß nicht mehr, auf welche Zahl er gekommen ist, aber auf jeden Fall über zweihundert. Sie haben auch andere bekommen, weniger Mut machende – boshafte sogar, rachsüchtige –, aber die sind woanders. Die Polizei hatte sie sehen wollen, fällt ihr ein. Soweit sie sich erinnert, haben sie sie nie zurückbekommen. Sie hat sie den Beamten gern überlassen, auch wenn es ihr jetzt schon etwas gegeben hätte, sie ebenfalls dem Papierkorb und später den Flammen übergeben zu können.
Sie beginnt zu lesen und muss wieder aufhören. Die Briefe waren in der Absicht geschrieben worden, ihr zu helfen, aber sie erinnern sie nur daran, wie weh sie ihr taten.
Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.
Es muss schrecklich sein.
Man wird sie finden.
Man wird ihn finden.
Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.
Plattitüden, im besten Fall. Im schlimmsten … Lügen. An beiden Extrempolen und auch dazwischen nichts, was irgendjemandem außer dem Schreiber selbst ein besseres Gefühl gegeben hätte.
Nicht, dass es ihr zustünde, so etwas zu sagen. Nicht, dass sie an irgendeinem Punkt hätte ausdrücken können, was sie wirklich fühlte. Nicht einmal Leo gegenüber, wie sich herausstellte, und das war beinahe das Schwerste.
Zum Teufel. Zum Teufel mit diesen Briefen. Sie stopft sie in den Papierkorb, eine Handvoll nach der anderen, bis die Hefter leer sind und der Korb fast voll.
Ihr wiedergefundener Schwung legt sich schnell wieder. Sie ist bei der letzten Schublade angelangt, hat die Finger bereits am Griff, zieht sie aber wieder zurück. Ihr ist eingefallen, was sie vergessen hat. Was sie mit aller Kraft verdrängt hat. Sie sind da drin. Sie müssen da drin sein. Die Originale liegen bei der Polizei, aber Leo hat sich Kopien gemacht, so gut kennt sie ihn. Sie müssten also eigentlich …
Ja. Sie hat die Schublade geöffnet, so wie man sich ein Pflaster von der Haut reißt, und sie enthält nichts weiter als eine Plastikmappe. Darin, versiegelt wie in einer Asservatentüte, liegen die Briefe.
Wieder zögert Megan. Es ist eine Art Mutprobe. Oder keine Mutprobe, vielmehr eine Buße. Es würde anders sein, als die Zeitungsausschnitte zu lesen, die in erster Linie deshalb widerlich sind, weil sie solche emotionalen Fehlgriffe sind. Diese Briefe hingegen würden sie noch einmal durchleben lassen, was sie gefühlt hat. Allein die Plastikmappe aus der Schublade zu nehmen erinnert sie an das Gewicht ihrer Schande. An ihrer beider Versagen. An ihr Versagen. So lange hat sie ihm die Schuld zugewiesen, aber wer war denn eigentlich in einer besseren Position, um die Wahrheit zu erkennen? Wer hätte an den Täuschungen und Irreführungen vorbeisehen und handeln – handeln – können, bevor es zu spät war?
ICH BEOBACHTE DICH
MAN WIRD DICH NACH DEINEN
LÜGEN BEURTEILEN
Sie sieht die erste Nachricht deutlich durch das Plastik, und diese erste Nachricht, noch recht zahm im Vergleich zu dem, was noch folgte, ist mehr als genug. Die Scham ist das eine, aber sie ist nicht darauf vorbereitet, diesen Alptraum noch einmal zu durchleben. Den Alptraum der Erinnerungen. Ihrer Vorstellungen. Der kranken, morbiden Phantasien ihres masochistischen Hirns. Und sie ist auch noch nicht darauf vorbereitet, ihre Gefühle von damals mit dem in Einklang zu bringen, was kommen wird. Und in gewisser Weise genauso beängstigend ist. Ihrem ganz neuen Anfang. Ihrer schönen neuen Welt. Ihrem Versuch, das Verlorene neu zu entdecken.
Die Briefe landen im Papierkorb. Sein Inhalt unten in einem Müllsack und der schließlich in der Mülltonne. Megan schließt den Deckel. Bevor sie sich davon abhalten kann, greift sie zum Telefon. Zuerst wird sie den Makler anrufen, genau wie versprochen. Leiten Sie alles in die Wege, wird sie sagen. Drücken Sie den Knopf. Danach wird sie ihren Mann anrufen. Nicht wegen Daniel Blake, sondern weil sie ihn schon längst hätte anrufen sollen. Sie muss ihm etwas gestehen.
10
E s hätte genauso gut eine Schule sein können: Modern und seelenlos kauerte es inmitten der Bürogebäude und Sozialwohnungen und fiel in dieser Betonwüste zunächst gar nicht weiter auf. Verräterisch war nur der Zaun. Die Warnschilder daran waren zwar im Grunde recht unauffällig, aber wenn man sie einmal entdeckt hatte, fiel einem noch mehr auf. Kameras zum
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