Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
neu, dachte Leo. Es war wahrscheinlich eins der Dinge, die sie mit dem Eintritt in ihr Berufsleben angenommen hatte. Das und ihre übergroßen Ketten und Ringe.
»Stimmt«, sagte er. »Tut mir leid. Ich sollte dir etwas Zeit geben.« Er sah sich im Raum um. »Du trinkst erst einmal in Ruhe deinen Kaffee, und ich warte da drüben.«
Karen schnaubte, was so viel hieß wie: Na, schönen Dank auch. Sie trank noch einen Schluck Kaffee, zuckte zusammen und bedeutete Leo, ihr zu den Stühlen zu folgen. »Ist schon okay«, sagte sie und nahm Platz.
Leo setzte sich ihr gegenüber, stützte die Ellbogen auf und legte das Kinn auf die verschränkten Finger.
»Solange wir wirklich nur über das reden, was wir vereinbart hatten: einen ersten Eindruck, sonst nichts. Okay?«
»Absolut«, sagte Leo. »Einen ersten Eindruck.«
Karens Augen verengten sich kurz. »Daniel«, begann sie und hielt inne. »Daniel leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung.« Sie sah Leo in die Augen. »Und das ist nicht nur ein erster Eindruck, Leo. Das ist eine Diagnose. Er schläft nicht. Wenn er isst, dann in regelrechten Fressattacken. Er hat Alpträume, Flashbacks und unterdrückt bestimmte Erinnerungen, die aber trotzdem immer wieder hochkommen. Und er nässt ein. Wusstest du das?«
Leo dachte an das Gummibettlaken des Jungen. »Ich konnte es mir so halb denken.«
»Nicht, dass das zwangsläufig etwas zu sagen hat. Gut möglich, dass es schon vorher so war. So oder so, er braucht Hilfe. Professionelle therapeutische Hilfe. Die er hier bestimmt nicht bekommt.«
Leo zog die Stirn in Falten, und Karen klimperte mit der Hand.
»Das liegt nicht an denen hier«, sagte sie. »Das Personal hier – und Bobby, hieß er nicht so?, der Diensthabende –, die machen alle einen recht kompetenten Eindruck und auch einen engagierten. Wenn sie dürften, würden sie dafür sorgen, dass Daniel alle nötige Hilfe bekommt, da bin ich mir sicher. Aber sie dürfen ja nicht. Hab ich recht, Leo?«
Das war keine Frage, sondern ein Vorwurf. Als würde Leo, so wie er vor ihr saß, das gesamte Rechtssystem repräsentieren. Was in gewisser Weise wohl auch so war.
»Er wird seine Behandlungen bekommen, Karen. Wenn der Prozess durch ist, geben sich die Ärzte hier die Klinke in die Hand.«
Karen senkte den Kopf. »Genau. Wenn der Prozess durch ist. Auch wenn es bis dahin natürlich sein kann, dass er dauerhaft geschädigt ist. Aber was soll’s? Er ist angeklagt, wen interessieren da schon seine Rechte? Scheiß auf die Unschuldsvermutung – wir müssen das schützen, was wir gegen ihn in der Hand haben.«
»Sieh mal, Karen, ich …«
Karen hob die Hand. Ihre Armbänder klimperten. »Ich weiß, ich weiß. Tut mir leid. Aber du hast mich nach meinem ersten Eindruck gefragt, und genau das ist mir eben zuerst aufgefallen. Du konntest dir doch an drei Fingern abzählen, dass ich dir den Kopf wasche, wenn du mich nicht wenigstens erst mal meinen Kaffee trinken lässt.«
Leo lächelte und sah zu Boden.
Nach einer Weile lächelte auch Karen. »Aber dein Fall. Du wolltest doch über deinen Fall reden.«
»Wir brauchen irgendwas, Karen. Er war es, er hat gesagt, dass er es war. Und davon wollen wir ihn auch gar nicht abbringen. Aber du hast ihn ja jetzt kennengelernt. Du hast ihn gesehen. Er ist noch ein Kind.«
Karen nickte langsam. »Ja, er ist ein Kind. Aber er hat jemanden umgebracht. Er …« Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Mehr als das. Wenn du mich jetzt bitten willst, irgendetwas zu finden, um das zu entschuldigen …«
»Nicht entschuldigen. Erklären. Er ist zwölf, Karen. Er hat noch fünfzig, sechzig Jahre vor sich.«
»Da hast du es doch schon. Er ist zwölf. Das ist ein Argument. Oder etwa nicht?«
»Das ist ein Argument«, sagte Leo. »Aber keine Verteidigung. Vor einem Jahr oder so wäre es vielleicht eine gewesen, aber jetzt zieht das Gesetz eine klare Grenze. Man braucht bloß zehn zu sein. Mit zehn weiß man, was richtig und was falsch ist. Zehn ist die Grenze.«
»Die Grenze. Dann gibt es kein Zurück mehr. Und wenn man dann eigentlich noch nicht so weit ist, darf man eben nicht so unvorsichtig sein, den nächsten Geburtstag zu feiern.«
»So in der Art.« Leo schaute auf den Tisch und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Er sah auf. »Aber wie wäre es denn damit? Könnten wir nicht sagen, er ist geistig noch jünger, auch wenn er schon zwölf ist?«
»Drei Jahre?«
»Ja, drei müssten es schon
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