Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
Vom Netzwerk:
weiß, aber es muss doch irgendwas geben. Oder nicht?«
    »Irgendwas? Du meinst irgendeinen Grund, warum ein Zwölfjähriger ein Mädchen umbringt, das er kaum kennt?« Karen sah plötzlich erschöpft aus. Sie seufzte noch einmal, und mit ihrem Atem schien auch alle Kraft aus ihr zu weichen. Sie lehnte sich an den Tisch. »Es gibt immer einen Grund, Leo. Manchmal Tausende.«
    »Ich brauche nur einen einzigen. Nur um einen Anfang zu haben. Verminderte Schuldfähigkeit, das wäre Daniels einzige Chance.«
    Karen verzog das Gesicht. »Du zäumst das Pferd von hinten auf. Ich dachte, man sieht sich zuerst die Beweislage an und entscheidet dann, worauf man plädiert.«
    »Kann sein. Manchmal. Aber du hast es ja selbst gesagt: Es gibt immer einen Grund. Stimmt’s?«
    Karen musterte ihn. Sie richtete sich auf und knöpfte ihren Mantel zu. »Daniels Familie. Die würde ich gern mal kennenlernen. Meinst du, das ließe sich einrichten?«
    »Vielleicht.« Leo sah auf. »Warum? Was hat er über sie gesagt?«
    Karen beugte sich dicht zu Leo und küsste ihn auf die Wange. »Pass gut auf dich auf, Leo. Und sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf nachholst.«
    Sie ging zur Tür, und Leo sah ihr nach. »Karen?«
    Sie drehte sich um.
    »Was hat er über seine Familie gesagt?«
    Karen zuckte mit der Schulter. »Nichts«, erwiderte sie. »Gar nichts.«

12
    E s hatte nicht funktioniert. Dabei funktionierte es immer. Überlege dir, was passieren könnte – das Schlimmste, das Unwahrscheinlichste oder auch das, was du dir am meisten wünschen würdest –, und es wird nicht eintreten. So lautete die Regel. Sie wischte einem manchmal eins aus und war bei anderen Gelegenheiten ein Schutz, aber so oder so, das funktionierte immer.
    Nur dass es diesmal nicht funktioniert hatte.
    Der Umschlag hatte irgendwo in dem Stapel Briefe gesteckt. Leo war den ganzen Tag außer Haus gewesen und erst auf den letzten Drücker wieder in die Kanzlei gekommen, deshalb hatte er die Post mit in den Besprechungsraum genommen. Er war die Umschläge einen nach dem anderen durchgegangen, und als er sich, ohne hinzusehen, auf seinen Stuhl sinken ließ, hielt er ihn plötzlich in der Hand. Genau wie er erwartet hatte, was aus ebendiesem Grund nicht hätte passieren dürfen.
    »Leonard?«
    »Hm.«
    »Leonard.«
    Leo blickte hoch. »Was? Ja, tut mir leid, ich …«
    Howard lächelte besorgt.
    »Tut mir leid«, sagte Leo, diesmal mit mehr Nachdruck. Er nahm den Briefstapel vom Tisch und legte ihn auf seinen Schoß, die Daumen auf dem oberen Umschlag. Die Nachricht darunter schien sich durch den Umschlag hindurchzubrennen.
    »Also, was halten Sie nun davon?«
    Leo musste einfach hinsehen, er konnte nicht anders. Aber er hörte auch die Frage und hob den Kopf, um zu sehen, wer darauf antworten würde. Alan, John, Terry, Howard und selbst Jenny, die zwischen Leo und dem Chef saß und Protokollnotizen auf ihren Block kritzelte: Alle im Raum sahen ihn an.
    »Ich?«
    Gelächter, nicht nur freundliches.
    »Die Anfrage zielt ziemlich genau auf Sie ab, Leonard. Aber wenn es Ihnen Unbehagen bereitet …«
    »Was? Nein. Natürlich nicht. Ähm. Wenn mir was Unbehagen bereitet?«
    Terry drehte sich um und murmelte irgendetwas. Howard beachtete ihn nicht und sagte: »Der Bericht, Leonard. Das Interview.«
    Die Worte hallten in ihm nach. Als sie in den Besprechungsraum gegangen waren, hatte jemand über einen Artikel gesprochen. Für irgendeine Zeitung – oder war es ein Magazin? The Lawyer? Oder The Law Society Gazette?
    »Na ja«, sagte Leo, als müsste er darüber nachdenken. »Worum würde es denn genau gehen?«
    Jenny blickte auf ihre Notizen. Howard sah ihn einfach nur entgeistert an.
    »Ganz ehrlich, Leo«, sagte Terry. »Ich hoffe, in Besprechungen mit deinen Mandanten bist du aufmerksamer.«
    Noch mehr Gelächter. »In der Tat«, sagte jemand. Leo spürte, wie er rot anlief.
    »Dann also noch mal von vorn«, sagte Howard. »Einverstanden? Es ist eine spannende Angelegenheit, deshalb habe ich nicht direkt was dagegen, sie noch einmal zu erzählen.« Er wandte sich an Leo. »Ich hoffe allerdings, ein weiteres Mal genügt.«
    Ohne es zu wollen, blickte Leo noch einmal verstohlen auf den Umschlag. Er drückte mit den flachen Händen darauf, versuchte die Sorgenfalten auf seiner Stirn zu glätten und sah seinen Chef an.
    »Die Gazette hat wegen eines Sonderbeitrags angefragt. Kleine Kanzlei, dicker Fisch, so in der Art. Sie drucken natürlich keine Details, aber sie werden

Weitere Kostenlose Bücher