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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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kurz ihren ersten Eindruck zu schildern.
    Aber es dauerte eine halbe Ewigkeit.
    Noch sieben Minuten, dann konnte er anfangen, in Stunden zu zählen. Daniel wird unruhig, hätte er sagen sollen. Bedränge ihn nicht, sonst macht er ganz dicht. Und er ist erst zwölf. Vergiss das nicht, er ist erst zwölf. Selbst die Polizei hat ihre Verhöre immer kürzer als eine Stunde gehalten, und trotzdem waren die meisten dreißig Minuten zu lang gewesen. Er ist längere Gespräche nicht gewohnt. Er ist überhaupt keine Gespräche gewohnt.
    Nicht, dass man Karen so etwas hätte sagen müssen. Das war schließlich ihr Beruf. Und dass es so lange dauerte, war wahrscheinlich sogar ein gutes Zeichen. Oder etwa nicht? Es sei denn, es lag daran, dass sie noch gar nicht richtig angefangen hatten. Was gut möglich war, wenn man in Betracht zog, wie sich Daniel bei ähnlichen Gelegenheiten verhalten hatte. Das konnten alle bestätigen: die Polizei, die Eltern des Jungen, die Sozialarbeiter und sogar Leo selbst.
    »Du führst doch nicht etwa Selbstgespräche?«
    Leo fuhr herum. »Karen.«
    »Du weißt ja, auf solche Dinge achten wir.« Karen legte den Kopf schräg und zwinkerte ihm zu.
    Leo ging nicht darauf ein und streckte ihr die Hand entgegen. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er ungeduldig. »Alles okay mit Daniel? Hat er mit dir gesprochen? Was hat er gesagt?«
    »Ich brauche einen Kaffee. Gibt es hier welchen?«
    »Was? Ach so.« Leo sah sich um. »Bestimmt. Keine Ahnung.«
    »Auch einen?« Karen ging zur Kaffeemaschine in der Ecke. Die Kanne auf der Heizplatte war leer, und sie machte sich daran, sie zu füllen. Leo folgte ihr und wich ihr nicht von der Seite.
    »Nein, danke. Wie ist es gelaufen?«, fragte er noch einmal.
    Karen sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. Sie verdrehte die Augen, wandte sich wieder der Kaffeemaschine zu und suchte den Knopf zum Einschalten. Nachdem sie ihn gefunden hatte, richtete sie sich auf und seufzte.
    »Er braucht Hilfe, Leo. Mindestens eine Therapie. Was er hinter sich hat und was er gerade im Moment durchmacht: Damit kommt er eindeutig nicht zurecht.«
    »Er kommt nicht damit zurecht? Was meinst du damit? Auf mich hat er recht stabil gewirkt. Den Umständen entsprechend natürlich.«
    »Er ist zwölf, Leo. Er gibt sich größte Mühe, nach außen hin hart zu wirken, aber wer hart wirkt, trägt immer einen Panzer. Mich interessiert, was sich darunter verbirgt.«
    Die Kaffeemaschine sprang gurgelnd an und begann zu tröpfeln. Karen nahm eine Tasse und hielt Leo eine zweite hin. »Willst du wirklich keinen?«
    Leo machte eine ablehnende Handbewegung. »Das heißt also …? Willst du damit sagen, er hat nicht mit dir geredet?«
    »Doch, doch.« Karen füllte ihren Becher und hob ihn auf Kinnhöhe. Der heiße Dampf ließ ihre Brille beschlagen, und sie pustete.
    Sie ließ ihn zappeln. Sie hatten jahrelang nicht miteinander gesprochen, und wenn Leo sich jetzt endlich gemeldet hatte, dann nur, weil er ihre Hilfe brauchte. Das war ihre Strafe. So ist das, sagte sie ihm damit. So ist das, wenn man davon ausgeht, dass eine Freundschaft schon nicht in sich zusammenfallen wird, wenn man nicht ab und zu ein wenig Luft hineinpustet.
    »Lass uns doch was trinken gehen«, sagte Leo. »Oder ich lad dich zum Mittagessen ein. Ich weiß, es ist ewig her und wir haben uns noch nicht mal richtig ausgetauscht, aber wirklich, Karen, das hier ist wichtig. Ich hab dich angerufen, weil ich wusste, ich kann dir vertrauen, und weil ich nicht dachte, dass es dir was ausmacht, wenn ich …«
    »Leo, jetzt komm erst mal runter. Ich denke bloß nach, das ist alles. Ich denke über das Gespräch nach. Ich habe nach dem Termin mit Daniel noch nicht einmal einen Zwischenstopp auf der Toilette gemacht. Hab ich mich gar nicht getraut.«
    Leo wollte zu einer Antwort ansetzen.
    »Eigentlich würden wir überhaupt nicht miteinander sprechen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich arbeite normalerweise nicht so, Leo. Ich mag es nicht, so zu arbeiten.«
    Leo blickte zu Boden. Das war Karen, dachte er. Deshalb waren sie, als sie an der Uni ein paarmal zusammen ausgegangen waren, nach kaum einer Woche wieder auf die rein freundschaftliche Ebene zurückgekehrt. Nicht weil sie die Gegenwart des anderen nicht genossen hätten, sondern weil sie so unterschiedlich waren wie eine Single und eine LP: Leo lief auf fünfundvierzig Umdrehungen pro Minute, Karen auf gemächlicheren dreiunddreißig.
    Karen seufzte noch einmal. Dieses Seufzen ist

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