Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
sein.«
Karen blies Luft durch die Zähne aus. Ihr Blick war Antwort genug. »Ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen, Leo. Und ich stehe auf deiner Seite. Aber er ist intelligent, er ist emotional entwickelt. Man müsste seinen IQ testen, aber auch der wird in etwa durchschnittlich sein. Der Junge ist altersgerecht entwickelt. Ich kenne keinen Kollegen, der das vor Gericht bestreiten würde. Zumindest keinen, von dem ich etwas halte.«
»Du wärst also nicht dazu bereit?«
»Ich könnte es gar nicht. Ich meine, wie denn? Ich werde nicht für dich lügen, Leo. Ich hoffe, das war nicht der Grund, warum du mich hierher gebeten hast, denn du solltest eigentlich wissen …«
»Karen. Bitte. Das meinte ich doch gar nicht. Ich habe bloß …«
»Laut gedacht?«
»Genau.«
Für einen Moment herrschte Stille.
»Was ist mit dieser …« Leo ließ die Hand in der Luft kreisen. »Dieser posttraumatischen Belastungssache. Könnte es irgendwie sein, dass er schon vor dem Angriff darunter gelitten hat?«
Karen schüttelte bereits den Kopf. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Die Antwort steckt doch schon in deiner Frage, Leo.«
»Ja, nein, schon klar, aber könnte er nicht ursprünglich unter etwas anderem gelitten haben? Irgendetwas, das zu dem geführt hat, was er jetzt hat?«
»Er hat ein Mädchen umgebracht. Deshalb leidet er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Man bringt nicht einfach so jemanden um, ohne dass irgendwelche psychischen Gegenreaktionen kommen. Es sei denn, man ist ein Psychopath.«
Leo hob den Kopf.
»Mensch, Leo. Jetzt guck doch nicht so hoffnungsvoll. Er ist kein Psychopath. Und man muss sicher nicht vom Fach sein, um das zu erkennen.«
»Nein.« Leo sackte in sich zusammen. »Nein, natürlich nicht.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und atmete noch einmal hörbar aus.
»Was ist mit dir?«
Leo blinzelte.
»Wie geht es dir? Gut, du siehst müde aus, und das bist du sicher auch, aber mal davon abgesehen. Wie läuft es denn so?« Karen drehte ihre Tasse vor sich auf dem Tisch hin und her. »Ich hab von der Sache mit deinem Vater gehört«, fügte sie hinzu. »Das war sicher ein harter Schlag für dich.«
Leo spürte, wie ihr Blick auf ihm lastete. »Mir geht es gut. Wirklich. Ich meine …«, er lachte, er zwang sich dazu –, »… läuft das Geschäft denn so schlecht? Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich mir dich leisten kann, selbst wenn du mir einen Freundschaftspreis anbietest.« Er lachte noch einmal, grinste – und spürte ein Brennen im Kiefer.
Karen ließ ihn einen Augenblick lang leiden. »Mir machst du nichts vor.« Dann lächelte sie. »Ein Staranwalt wie du?« Sie deutete auf ihn. »Diese Krawatte. Und dieser Anzug. Alles nur Verkleidung, um dir die Goldgräber vom Leib zu halten, hab ich recht?«
Leo blickte an sich hinab.
»Aber was ist mit Megan?«, bohrte Karen weiter. »Und Eleanor? Diese ganze Sache ist sicher eine ziemliche Belastung für euch alle.«
»Eine Belastung?« Leo musste unwillkürlich an den Brief denken. Es war ein Streich, hatte er beschlossen. Wer auch immer ihn geschrieben hatte, er war ein Spinner. Genau aus diesem Grund hatte er seiner Frau auch noch nichts davon erzählt. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ach komm schon, Leo. Jetzt tu doch nicht so. Du hast es hier ja nicht gerade mit einem betrunkenen Randalierer zu tun.«
Nein. Wahrlich nicht. Wenn das jemand verstand, dann Karen.
»Aber darum geht es ja gerade«, sagte Leo. »Uns war klar, dass wir uns warm anziehen müssen. Das wussten wir von Anfang an.«
»Wir?«
Jetzt wurde Leo doch energisch, obwohl er es nicht gewollt hatte. »Das hier ist wichtig, Karen. Daniel braucht meine Hilfe. Ich werde ihn nicht im Stich lassen, nur weil alle anderen meinen, er kann ruhig vor die Hunde gehen.«
»Nein. Natürlich nicht. Das verstehe ich voll und ganz. Ich meinte ja nur …« Karen schien noch etwas sagen zu wollen. »Ich wollte mich nicht in etwas einmischen, was mich nichts angeht«, sagte sie stattdessen. »Du siehst bloß müde aus.« Sie lächelte so lange, bis Leo zurücklächelte.
»Mir geht’s gut«, sagte er. »Meg, Ellie: Es geht uns allen gut.«
»Prima. Das freut mich zu hören.« Karen schob die Kaffeetasse in die Mitte des Tisches. Sie lächelte noch einmal und stand auf.
»Warte.« Leo erhob sich ebenfalls. »Du willst doch nicht etwa schon gehen? Was ist mit Daniel?«
»Wir waren uns einig, Leo. Ein erster Eindruck, mehr nicht.«
»Ich
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