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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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wollte nicht noch einmal dabei ertappt werden, dass er nicht aufpasste, deshalb gab er sich Mühe, den Faden der Diskussion nicht ganz zu verlieren. Oder vielmehr des Vortrags: Howards Standpauke. Aber das Thema war nicht neu und die Botschaft vorhersehbar, und so machte sich Leo, während einige zustimmend nickten und die anderen auf dem Papier herumkritzelten, mit dem sie sparsam umgehen sollten, an der Lasche des Umschlags zu schaffen.
    Nur dass er nichts ausrichten konnte. Der Umschlag war offenbar mit Kraftkleber verschlossen, und es gab nicht einmal einen kleinen Schlitz, in den er einen Finger stecken konnte. Er nahm den Fingernagel zu Hilfe, obwohl er seit Beginn des Falls eigentlich keine Fingernägel mehr hatte, nur noch wunde, offene Nagelbetten, die ihm in dieser Situation wenig nützten.
    Aber halt, vielleicht … Er hatte eine Ecke erwischt. Oder? Ohne hinzusehen, ließ sich das nicht so leicht feststellen, aber es fühlte sich eindeutig wie … Ja. Eine Öffnung. Gerade groß genug, um …

    »Scheiße!«
    »Leo?«
    »Scheiße!«
    »Was ist?«
    Blut.
    »Autsch.«
    Scheiße. Blut. Au. Au!
    Er sprang auf. Die anderen starrten ihn an – ihn und, als sie es entdeckt hatten, das Blut, das von seinen Fingern tropfte.
    »Scheiße«, sagte Leo noch einmal. »Verdammt noch mal, autsch!« Er hatte die Umschläge fallen lassen, alle bis auf den einen, der ihn gebissen hatte. Genau so hatte es sich angefühlt: wie ein Maul mit Rasierklingenzähnen, das einmal kräftig zugebissen hatte.
    »Um Himmels willen, Leo«, sagte Terry.
    Jenny stand neben Leo und neben ihr Howard, wobei er sich gerade noch so halten konnte. Seiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, hätte man meinen können, das Blut auf dem Boden stammte von ihm.
    »Alles in Ordnung«, sagte Leo und wandte sich ab. »Ich hab mich nur, keine Ahnung.« Er hielt den Umschlag hoch. »Am Papier geschnitten oder so.« Das Loch, das er mit dem Finger ins Papier gebohrt hatte, hatte die Farbe einer offenen Wunde. Und es glitzerte, schien die Zähne zu fletschen.
    »Das ist aber ziemlich tief für Papier«, sagte irgendwer.
    »Hier«, sagte jemand anders, und von irgendwoher wurde ihm ein Taschentuch gereicht. »Komm, ich nehme dir das ab«, sagte dieselbe Stimme, aber Leo steckte den Umschlag, blutig, wie er war, schnell in seine Hosentasche.
    »Schon okay«, sagte er. »Danke. Ich geh nur schnell …« Er wickelte das Taschentuch um seine blutigen Finger und deutete mit dem Kopf zur Tür.
    »Ja, gehen Sie«, brachte Howard mit Mühe heraus. »Bitte.«
    Leo ging an den leeren Schreibtischen vorbei zur nächsten Toilette. Hastig drehte er den Wasserhahn auf und zuckte zusammen, als das Wasser in die Wunde lief.
    Sein Finger sah aus, als wäre er in einen Reißwolf geraten. Er hatte nicht nur einen Schnitt, sondern gleich mehrere: ein Muster aus Kerben, die sich überkreuzten und unter dem Wasserhahn farblos aussahen, aus denen es jedoch rot hervorquoll, sobald er den Finger aus dem eiskalten Strahl herauszog. Leo griff über den Arm mit der versehrten Hand hinweg nach einem Stück Toilettenpapier und musste zwei-, dreimal ziehen, um es von der Rolle abzureißen. Schließlich hatte er viel zu viel Papier – dachte er zumindest, doch als er es um seinen Finger wickelte, war es im Nu durchweicht. Mit der unversehrten Hand drückte er darauf. Er zählte, wartete, bis es aufhörte zu bluten und der Schmerz nachließ, dann wagte er eine Bewegung. Vorsichtig zog er den zerknitterten Umschlag aus der Hosentasche.
    Die gefletschten Zähne waren aus Glas: der Rand des Umschlags war innen mit Glassplittern überzogen, so groß wie Meersalzkristalle. Leo musste unpassenderweise an Ellie und die Bilder denken, die sie vor gar nicht so langer Zeit aus der Schule mit nach Hause gebracht hatte – Meereslandschaften aus Sand oder glitterbestreute Weihnachtskarten. Die Glassplitter auf dem Umschlag waren mit derselben Technik festgeklebt worden, fiel Leo auf. Und auch, wie der Schreiber seine Boshaftigkeit demonstrierte, das hatte etwas Jugendliches, dachte Leo.
    Vielleicht mit einem Schlüssel. Er fischte den Bund aus der Hosentasche und bohrte mit dem Haustürschlüssel ein kleines Loch in die geschlossene Seite des Umschlags. Das Papier war dick, so als wäre es verstärkt worden – vielleicht, um die Splitter zu verdecken –, und gab nur zögerlich nach. Leo arbeitete sich stoßweise vor, Zentimeter für Zentimeter. Blut sickerte durch das Toilettenpapier, und aus dem

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