Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
gesagt, ich soll Bilder machen!« Der Mann sah kurz über Leos Schulter. Leo drehte sich um, wollte seinem Blick folgen, aber er sah nichts. Doch dann: Ellie, die allein dastand und die Szene verfolgte.
Leo drehte sich schnell wieder um. »Sie machen Fotos von meiner Tochter?«
Der Mann wich einen Schritt zurück. »Ich mache nur, was man mir gesagt hat, okay? Das ist bloß ein Job!«
»Leo! Was ist hier los? Würdest du mir bitte …«
»Sie sind Fotograf.« Leo näherte sich ihm nicht weiter. »Sie arbeiten für eine Zeitung?«
Was sollte ich denn sonst hier verloren haben, schien der Gesichtsausdruck des Mannes zu fragen. »Für die Post «, sagte er. »Aber das ist nur eine einmalige Sache. Ich bin freier Fotograf. Ich lösche die Bilder, versprochen. Ich erzähl denen, ich hätte Sie am Bahnhof aus den Augen verloren.« Der Mann verschwand rückwärts durch die Mauer aus Schaulustigen.
»Leo. Leo!«
Langsam drehte er sich zu seiner Frau um. Er bekam vage mit, dass die Leute um ihn herum auseinandergingen, bis auf einen Mann mit einer Wollmütze, der eindeutig noch auf eine Steigerung wartete. Doch selbst er zog, als Leo ihn kurz ansah, das Kinn in den hochgestellten Mantelkragen und wandte sich zum Gehen. Leo und Megan blieben allein zurück.
Sie waren allein.
Leo blickte nach links, nach rechts und dann wieder zu seiner Frau, die ihn mit einer Mischung aus Angst und Abscheu im Blick ansah. Bis sich auch ihre Miene veränderte, noch bevor Leo die Frage aussprechen konnte, die ihnen auf einmal beiden durch den Kopf schoss.
»Wo ist Ellie?«
Sie fanden ihre Eiswaffel oben auf einem Mülleimer am Rand der Grünfläche. Der Inhalt war geschmolzen, und die Himbeerwellen zerrannen wie Blut.
Jenseits des Platzes teilten sie sich auf, wie Leo vorgeschlagen hatte. Sie war nach Hause gefahren. Natürlich war sie nach Hause gefahren. Sie war sicher am Bahnhof oder saß schon im Zug. Und sie war ja auch schon fünfzehn, kein Kind mehr. Es war ja nicht so, als wäre sie noch nie allein mit dem Zug gefahren. Trotzdem sollte Megan nicht sehen, wie in Leo die Panik aufstieg, und offenbar war es seiner Frau ohnehin ganz recht, sich allein auf den Weg zu machen. Sie wirkte regelrecht erfreut darüber, seinen Anblick nicht länger ertragen zu müssen.
Megan ging geradewegs zum Bahnhof. Leo würde noch einmal denselben Weg gehen, den sie gekommen waren, und dann hoffentlich auf Gleis zwei zu den beiden stoßen, wie sie es vereinbart hatten. Und so spulte er den Tag noch einmal zurück, ging all die Schauplätze kleiner Niederlagen noch einmal ab. Keiner davon bescherte ihm beim zweiten Besuch mehr Erfolg; sein erster Instinkt war also offenbar richtig gewesen. Und so rannte er los, so gut er konnte, um die Fußgänger herum, die einfach nicht auseinandergehen wollten, und rüstete sich für den Anblick seiner Frau und seiner Tochter, die sich für seinen Anblick gerüstet hatten.
Fast hätte er sie verpasst. Der Zug nach Exeter stand schon auf dem Gleis, und im dichten Gewühl der Ein- und Aussteigenden an den Türen hatte Leo für einen Moment Mühe, seine Frau und seine Tochter auszumachen. Dann entdeckte er sie endlich – aber selbst jetzt glaubte er zuerst, er müsste sich getäuscht haben. Denn sie gingen einfach weiter. Seine Frau, die Hand auf dem Rücken seiner Tochter vor ihr: Sie standen in der Schlange, um einzusteigen.
Sie fuhren ohne ihn.
Leo blieb wie angewurzelt stehen und rief sie. Ellie war mittlerweile im Zug, aber Megan hinter ihr drehte sich noch einmal um. Sie sah ihn. Keine Frage, sie musste ihn sehen. Aber sie winkte ihm weder, noch machte sie ihm ein Zeichen, sich zu beeilen. Sie sah ihn kurz an, dann drehte sie sich um und verschwand.
16
U ngefähr so ist es abgelaufen, sagte sie.
Als Karen hereingekommen war, hatte Stephanie merkwürdig reglos und still zur Tür gewandt gesessen. Blake hinter ihr schien wegen ihnen beiden geladen zu sein: Er grummelte zwar nicht vor sich hin, als Karen eintrat, holte aber offenbar nur kurz Luft. Er tigerte auf und ab oder hatte das anscheinend gerade getan, denn nachdem Karen hereingekommen war, musste er seinen Schwung abbremsen. Neben dem Sessel blieb er stehen, verdeckte halb seine Frau und zeigte wortlos seine Feindseligkeit. Er sah auf die Uhr, so als wäre er aufgebracht, weil Karen zehn Minuten zu spät kam. Natürlich hätte sie pünktlich sein sollen. Eigentlich hatte sie an diesem Vormittag in ihrem Büro bleiben wollen, aber dann war doch
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