Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
dem Tunnel kamen, stürzte sich eine Welle auf sie, und sie wich erschrocken zurück. Sie kreischte sogar auf, wie jedes andere Kind es vielleicht getan hätte. Aber dann schwappte die Welle zurück, und als Ellie Megan ansah, sprach aus ihren Augen eher so etwas wie echte Angst.
»Ist das nicht gefährlich?«
Leo blickte von seiner Tochter zu seiner Frau. »Gefährlich?« Er sah wieder seine Tochter an. »Was meinst du?«
Ellie antwortete, sah aber ihre Mutter an. »Na, die Wellen. Der Zug. Was, wenn wir von den Schienen gespült werden?«
In der Sitzreihe gegenüber saß eine Frau in Megans Alter; sie sah Leo an und lächelte. Leo lächelte angestrengt zurück.
»Es kann nichts passieren, Schätzchen«, sagte Megan. »Sonst würden sie den Zug gar nicht fahren lassen.«
Doch dann brach die nächste Welle, und die, so hätte Leo geschworen, schlug bis über das Dach. Megan schreckte hoch, und dann – vielleicht in einem Moment der Unachtsamkeit – grinste sie Leo an wie ein Schulmädchen. Er war zu erstaunt, um gleich zu reagieren. Etwas zu spät kam ihm der Gedanke, die Hand seiner Frau zu nehmen, aber er zögerte, und da war die Chance schon verstrichen.
»Mum.«
Megan setzte sich von Leo weg und schräg gegenüber neben Ellie. Sie legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter, und Leo spürte, wie ihn ein Schmerz durchzuckte. Auch wenn Ellie sich mit ihrer Mutter gestritten hatte, richtete sich ihr Zorn in erster Linie gegen ihn: ihre Strafe dafür, zu diesem Schluss war Leo gekommen, dass er sich bei ihrer Schulleiterin beschwert hatte.
»Es passiert nichts, Schätzchen, versprochen.« Megan lächelte, und Ellie schmiegte sich in ihren Arm. Leo lächelte ebenfalls und wartete darauf, dass Ellie ihn ansah – ihn mit aufnahm. Aber er wartete vergebens. Die Fremde beobachtete sie immer noch, und Leo wandte sich ab, um die aufsteigende Röte in seinem Gesicht zu verbergen.
Er hatte nicht gedacht, dass es so belebt sein würde. Ein menschenleeres Dorf hatte er sich vorgestellt. Ein, zwei unerschrockene Touristen vielleicht, Dorfbewohner, die mit ihrem Hund am Strand entlangschlenderten. Aber die überfüllten Cafés und die Menschenmengen auf den Gehwegen hatte Leo nicht auf der Rechnung gehabt. Sie waren am Rand einer Grünfläche stehen geblieben. Oder vielmehr Leo. Megan und Ellie waren bereits ein paar Schritte vorausgegangen.
»Was denn?«, fragte Megan und drehte sich um.
»Diese ganzen Leute hier. Es ist nur … Ich dachte halt, wir wollten mal einen Tag unsere Ruhe haben.«
»Wir wollten einen Ausflug machen, darum ging es. Nur wir drei.« Megan warf einen kurzen Blick zu Ellie, die ängstlich ihren Vater ansah. »Leo«, sagte Megan, als seine Antwort ausblieb. Ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck waren eine einzige Warnung.
Leo betrachtete die Menge. Er betrachtete seine Tochter. Wie würdest du es finden, Leo?
»In Ordnung«, sagte er. »Wir bleiben einfach dicht beisammen, ja? Damit wir uns nicht aus den Augen verlieren.«
Er verlor sie aus den Augen.
Leo drehte sich um, nach links und nach rechts, ging auf die Zehenspitzen – und entdeckte die beiden schließlich vor dem Schaufenster eines Modegeschäfts. Er fuhr sie an, wofür er einen bösen Blick von Meg kassierte, die ihre Tochter zur Strafe in den Laden hineinführte.
Leo wollte erst hinterhergehen, blieb dann aber vor der Tür stehen und musterte die Passanten. Es waren hauptsächlich Familiengrüppchen, wie sie auch. Aber sie waren vergnügter, weniger angespannt. Manche hatten ein Eis in der Hand, andere trugen Einkaufstüten und wieder andere nur ein zartes Rot vom kalten Winterwind auf den Wangen. Einige waren auch allein: eine ältere Frau, ein junger Mann, kurz hintereinander zwei schwarz gekleidete Teenager. Aber keiner von ihnen wirkte irgendwie bedrohlich. Es schien noch nicht einmal jemand zu bemerken, dass Leo dort stand. Es war wohl einfach nur dieser Wind, weiter nichts; das weite Meer. Er fühlte sich schutzlos, weil sie sich nicht zu Hause einschließen konnten. Was in gewisser Weise auch albern war. Unlogisch, denn wenn jemand sie wirklich finden wollte – sie beobachten wollte –, würde er ja wohl zuerst bei ihnen zu Hause nachsehen. Sicherer als hier in der Menge konnten sie nicht sein.
Säckeweise, Leo. Weißt du noch?
Seine Nerven lagen blank, aber eigentlich war das unnötig. Hatte er das nicht bereits für sich beschlossen? Wenn Ellie und Meg aus dem Geschäft kamen, würde er dafür sorgen,
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