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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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sie …«, wieder sah Daniel verwirrt aus, »… sie hat so das Gesicht verzogen. So. Das Gesicht verzogen halt.«
    »Erzähl weiter.«
    Daniel ließ das Kinn sinken. »Dann ist sie gegangen. Sie hat gelacht, als ob sie gar keine Angst mehr hätte, und ich … keine Ahnung. Ich fand’s besser, als sie welche hatte.«
    Daniel hörte auf, an seinen Nägeln zu kratzen.
    Er verschränkte die Hände und legte die Daumen aneinander.
    »Sie ist gegangen«, sagte Leo, und der Junge nickte.
    »Ich bin dann hinterher. Nicht mit Absicht. Ich bin einfach nur in dieselbe Richtung gelaufen wie sie, und irgendwie bin ich ihr dann gefolgt, am Fluss lang. Es war kalt, und ich … ich wollte mich einfach bewegen.«
    »War sie … Hat sie denn gemerkt …«
    »Sie hat mich gesehen. Sie hat zwar so getan, als ob nicht, aber sie hat mich gesehen. Sie hat angefangen zu singen. Wollte mich damit ärgern. So blöde Lieder, Spice Girls und so.«
    »Warum glaubst du, dass sie dich ärgern wollte?«
    »Keine Ahnung. Es war auf jeden Fall nervig. Das hat sie genau gewusst.«
    Leo nickte. »Und was ist danach passiert?«
    »Ich war dann ziemlich nah bei ihr, einfach, weil sie so langsam war. Das hat sie auch gemacht, um mich zu ärgern. Das hab ich genau gemerkt. Sie ist so gelaufen, als wär’s ihr total egal, dass ich hinter ihr bin.«
    »Hast du mit ihr gesprochen? Hast du irgendwas zu ihr gesagt?«
    Der Junge schüttelte den Kopf, fast unmerklich. »Ich bin dann ziemlich dicht an sie ran … keine Ahnung … vielleicht so, dass noch ein Bus dazwischengepasst hätte. Sie hat immer noch gesungen, sogar noch lauter als vorher. Ich …« Eine Träne löste sich aus Daniels Augenwinkel und zersprang auf seinem Daumen. »Ich hab einen Stein genommen. Und geworfen. Ich wollte sie nicht treffen, aber … Keine Ahnung. Er ist dichter bei ihr gelandet, als ich gedacht hätte.«
    »Was für einen Stein? Einen großen?«
    »Weiß ich nicht mehr. Einen Stein halt. Ich hab sie nicht getroffen.«
    »Okay. Tut mir leid. Erzähl weiter.«
    »Sie hat ihn aufschlagen hören. Den Stein. Und dann hat sie so, na ja, so wütend geguckt. Richtig wütend, so wie die Lehrer. Aber gesagt hat sie nichts. Nur die Zunge rausgestreckt. Und dann …«
    Leo wartete. »Und dann?«
    »Dann ist sie losgerannt.«
    Daniel weinte jetzt richtig. Er gab zwar keinen Laut von sich, aber seine Augen füllten sich mit Tränen, bis er blinzeln und sie abwischen musste, um noch etwas zu sehen.
    »Sollen wir eine Pause machen? Kann ich dir ein Wasser oder irgendwas anderes holen?«
    Der Junge schüttelte den Kopf, diesmal bestimmter. »Ich bin ihr nachgerannt. Bloß weil sie weggerannt ist. Ich wollte sie gar nicht einholen, aber sie …«, er schniefte, »… sie ist gestolpert. Vielleicht auf Eis ausgerutscht. Sie ist hingefallen. Es war nicht meine Schuld, dass sie hingefallen ist, aber als sie dann … da hab ich … Sie war einfach …«
    »Du hast sie eingeholt.«
    Daniel nickte und drückte sich die Fingerknöchel in die Augenhöhlen. »Sie hat geweint. Und geschrien. Und andauernd: ›Mein Mantel, mein Mantel‹. Dieser blöde Mantel.«
    Ihr Mantel. Felicitys purpurroter Mantel. Leo musste an Bullen denken, wilde Tiere: an den unbeherrschbaren und unbegreiflichen Instinkt, auf jemanden loszugehen.
    »Sie hat gesagt, sie petzt. Dass sie weiß, wer ich bin, und dass es meine Schuld ist, dass ihr Mantel jetzt kaputt ist. Dabei hat das gar nicht gestimmt. Ich hatte gar nichts gemacht. Sie ist gerannt und gestolpert und hat mich angeguckt, als ob … als wäre ich …«
    Leo konnte sich nur zu gut vorstellen, was dann gefolgt war. Gegenseitige Beschimpfungen, vielleicht Schläge. Je mehr Angst Felicity bekam, desto schriller wurde ihre Stimme, und je schriller sie wurde, desto verzweifelter versuchte Daniel, sie zum Schweigen zu bringen. Er packte sie. Sie schlug nach ihm. Daniel schubste sie, Felicity fiel, und dann … dann …

    »Ich bin einfach ausgetickt. Einfach, na ja, ausgetickt halt. Ihr Mantel – dieser blöde Mantel –, den hab ich zerrissen, bloß um sie zu ärgern, sie wütend zu machen, und damit sie genauso friert wie ich. Aber die Bluse hab ich auch zerrissen. Und ich … Ihre Haut, sie … Sie war …« Daniel schluckte, und durch seinen dünnen Hals schien ein Kloß zu rutschen. »Ich bin einfach ausgetickt.«
    Ausgetickt, ja.
    Aber nicht so, dass es genügte.
    »Der Angriff«, sagte Leo, und seine Stimme blieb fest. »War das der Moment,

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