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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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kannten wir die Fakten schon vorher, aber wir wussten sie nicht einzuordnen. Daniels Krankenhausakte in Verbindung mit der Depression seiner Mutter …«
    »Ihrer Depression? Woher weißt du, dass sie depressiv war?«
    »Nicht war, ist. Man braucht kein Arzt zu sein, um das zu diagnostizieren. Ich weiß noch nicht genau, seit wann, aber mit Sicherheit nicht erst seit dem Mord. Ich würde auf eine postpartale Depression tippen. Die Pillen, die Daniel geschluckt hat, können natürlich von jedem gewesen sein, aber es waren ziemlich sicher die von Mummy oder Daddy.«
    »Du vermutest, von Mummy.«
    »Ja. Aber wer sie ihm gegeben hat, steht auf einem anderen Blatt.«
    »Wieso gegeben? «
    »Gegeben, herumliegen lassen, damit er sie findet – das läuft letztlich auf dasselbe hinaus.«
    »Aber das kann ja auch ein Unfall gewesen sein, oder nicht? Meinst du nicht, du ziehst voreilige Schlüsse?«
    »Ja, kann es. Und tue ich vielleicht, ja. Aber dazu bin ich schließlich hier, stimmt’s?«
    Leo blies die Wangen auf. Er blickte auf die Seiten, ohne die Zeilen darauf zu erfassen.
    »Na gut«, sagte er. »Angenommen, du hast recht. Na und? Wie steht das, was Daniel als Baby zugestoßen ist, im Zusammenhang mit dem Verbrechen, das ihm jetzt vorgeworfen wird?«
    »Gar nicht. Jedenfalls nicht, wenn du eine direkte Verbindung suchst. Aber indirekt erklärt es eine ganze Menge. Hier entstand ein Muster. Es prägt Daniels Verhältnis zu seinen engsten Bezugspersonen und, wenn man einen Schritt weitergeht, zu allen um sich herum. Je nachdem, wem du Glauben schenkst, prägen die Erlebnisse aus unserer frühen Kindheit unser Verhalten als Erwachsene.«
    »Zeig mir das Kind, und ich zeig dir den Mann. Wer hat das noch mal gesagt? John Lennon?«
    »Das ist von Stalin. Und von den Jesuiten. Aber genau das meine ich, ja. Und wenn es um sexuellen Missbrauch geht, ist es doppelt wahr.«
    »Sexuellen Missbrauch? Meine Güte, Karen.«
    »Sag bloß, das überrascht dich?«
    »Nein. Ich meine, es würde mich nicht überraschen. Aber das mit den Pillen ist das eine. Du meinst, er wurde auch missbraucht?«
    »Ich sage nur, dass es wahrscheinlich ist. Mehr als das. Zumal achtzig Prozent aller sexuellen Gewalttäter selbst Opfer sexueller Übergriffe waren. Daniel wurde von Anfang an so geprägt, er ist nicht erst so geworden, Leo.«
    »Aber der Bericht hier.« Leo nahm die Seiten zur Hand und stieß dabei gegen seine Kaffeetasse. »Was stand da? Da stand …«
    »Da stand, dass sie keine Beweise gefunden haben. Aber denk daran, sie haben auch nicht genauer hingeschaut als nötig – hauptsächlich haben sie sich die letzten Jahre angesehen. Meiner Meinung nach bleibt die wichtigste Zeitspanne in Daniels Leben außen vor.«
    Leo sah noch einmal auf die Seiten und suchte nach dem, was Karen meinte.
    »Darin findest du nichts«, sagte sie zu ihm. »Und genau das ist das Interessante daran. Bis auf seine Zeit als Kleinkind und die letzten beiden Jahre steht da überhaupt nichts Konkretes. Nur hier.« Sie zeigte auf einen Absatz von gerade mal drei Zeilen. »Es gab eine Phase, in der er wiederholt die Schule geschwänzt hat. Das wird hier erwähnt, aber nicht erklärt. Es fällt in die Zeit, als Daniels Vater die Familie verlassen hat und als seine Mutter …«
    »… ›zurechtgekommen ist‹. Was auch immer das heißt.«
    »Genau. In der traumatischsten Phase seines Lebens – das tatsächliche körperliche Trauma, das er offenbar erlitten hat, gar nicht mitgerechnet – findet Daniel also kaum Beachtung. Er wurde wahrscheinlich sexuell missbraucht. Sein Vater hat ihn geschlagen, dann hat er ihn verlassen. Seine Mutter – seine einzige Bezugsperson – war klinisch depressiv. Aber vor allem war Daniel … na ja …«
    »Er war allein.«
    Karen nickte. »Er war allein.«
    Leo hatte etwas von seinem Kaffee auf die Untertasse verschüttet. Auch auf dem Tisch waren Kaffeepfützen, und Leo wischte sie gedankenverloren mit einer Serviette auf. »Meinst du, da lässt sich was draus machen?«, fragte er, ebenso sehr sich selbst wie Karen, aber sie antwortete trotzdem.
    »Du bist der Anwalt, Leo. Es ist schon eine Geschichte erkennbar, aber Beweise gibt es kaum.«
    Leo runzelte die Stirn und hob den Kopf. »Aber warum jetzt? Wenn Daniel schon die ganze Zeit solche psychischen Schäden hatte, warum kommt es dann erst jetzt zum Vorschein?«
    »So ein Samen braucht Zeit zum Wachsen. Wirf genug Mist drauf, sprenkele ein paar Hormone drüber –

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