Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Wange. »Sie haben gut reden.«
Der Junge saß auf der Bettkante, die Beine hingen von der Matratze herab, und die nackten Füße unter der Jogginghose schwebten knapp über dem Linoleum. Daniel ließ den Kopf hängen und sprach zum Fußboden.
Leo saß ganz vorn auf der Stuhlkante, die Ellbogen auf den Knien und den Oberkörper vorgebeugt. »Was macht dein Auge?«, sagte er. »Willst du ein wenig Eis oder so?«
Daniel zog nur die Stirn in Falten.
»Gegen die Schwellung. Dann tut es weniger weh.«
»Die tut gar nicht so sehr weh. Mein Bauch ist schlimmer.«
Sein Bauch. Dort hatte er auch Schläge abbekommen, hatte er Leo erzählt. Der älteste Junge hatte zugeschlagen, während ihn die beiden anderen an den Armen festgehalten hatten.
Der Junge veränderte seine Sitzhaltung und zuckte zusammen. Er wischte sich noch einmal über die Augen.
»Hast du schon mit deinen Eltern gesprochen? Mit deiner Mutter? Kommen sie dich besuchen?« Leo sah auf die Uhr. Wenn, dann müssten sie mittlerweile eigentlich da sein.
»Bobby meinte … Mum hätte gesagt, es geht ihr nicht gut. Sie … Sie ist manchmal nicht so gut drauf.«
»Ja. Natürlich. Sie kommt bestimmt bald vorbei, da bin ich sicher.«
Daniel hob den Kopf. Sein Gesicht wirkte zerfurcht, und über seine Wangen liefen Tränen. »Wie lange muss ich denn noch hier drin bleiben?«
»Hier in deinem Zimmer?« Leo sah zur Tür. »Wir können auch rausgehen, wenn du willst. Das dürfen wir bestimmt. Sollen wir spazieren gehen? Oder wir gehen in den Spieleraum und sehen nach, ob die PlayStation frei ist.«
»Nicht hier. Ich meine, hier drin. In dieser Anstalt.«
Leo seufzte. »Noch eine Weile, Daniel.«
»Bis zu diesem Anklagedings?«
»Zur Anklageverlesung? Ja. So lange mindestens.«
»Und danach? Muss ich dann wieder hier rein?«
»Das kommt darauf an. Tut mir leid. Es hängt wirklich davon ab, wie es läuft.«
»Ich finde es zum Kotzen hier.« Leo war für einen Moment erschrocken über den Hass in der Stimme des Jungen und das Harte seiner Miene. Er hatte vergessen, dass Daniel dazu imstande war.
»Ich weiß. Ich tue ja schon mein Bestes, um dich hier herauszuholen. Aber, Daniel, du musst dich darauf einstellen, eine sehr lange Zeit hier oder an einem ähnlichen Ort zu verbringen.«
Daniel starrte in die Luft. Leo beobachtete ihn; er hätte noch mehr sagen können. Dieser Ort hier, den du so zum Kotzen findest, der ist gar nicht so schlecht, hätte er sagen können. Im Vergleich zu den Alternativen ist es eigentlich das Beste, worauf du hoffen konntest.
Aber dazu hatte Leo nicht den Mut.
»Ich hab das nicht gewollt, wissen Sie.«
Leo sah hoch. Sie hatten gerade darüber gesprochen, was Daniel anziehen sollte und dass er sein Haar – bis dahin kurz – am besten etwas wachsen ließ.
»Was hast du nicht gewollt?« Doch im selben Moment, als Leo die Frage aussprach, wurde ihm klar, wovon Daniel sprach.
»Das mit dem Mädchen.« Daniel sah auf seinen Daumennagel und kratzte mit den Nägeln der anderen Hand die Haut drum herum auf. »Ich hab das nicht gewollt.«
Leo schluckte. Er faltete die Hände und spürte, wie sich Spannung in seinem Griff aufbaute. Das, der Mord selbst: darüber sprach Daniel nicht. Nicht bereitwillig. Jedes Detail, das Leo bisher in Erfahrung gebracht hatte, hatte er dem Jungen aus der Nase ziehen müssen, und Daniel hatte ihm nicht mehr Einblick in sein Leben gegeben, als Leo schon ganz am Anfang durch den Polizeibericht bekommen hatte. Wenn Daniel über das Geschehene sprach, dann so, als würde er eine Filmszene beschreiben. Er wirkte so unbeteiligt, dass Leo, hätte er es nicht besser gewusst, sich vielleicht gefragt hätte, ob der Junge überhaupt dabei gewesen war.
»Was meinst du?«
Daniel nahm sich jetzt den anderen Daumen vor. »Ich wollte mit ihr reden. Weiter nichts.« Er schien darüber nachzudenken, so lange, dass Leo schon den Drang verspürte, ihn zum Weiterreden aufzufordern.
Aber dann: »Sie hatte Angst vor mir. Dabei hatte ich noch gar nichts gesagt.«
»Was glaubst du, warum sie Angst vor dir hatte?« Abgesehen vom Sprechen versuchte Leo, sich so ruhig zu verhalten wie nur möglich.
»Keine Ahnung. Weil ich so, na ja … Halt hässlich bin. Oder. Keine Ahnung.« Der Junge sah immer noch auf seine Hände. »Ich hab sie gefragt, ob sie mich küsst. Weil ich genau wusste, sie macht’s nicht.« Er sah Leo kurz an, hielt aber keinen Blickkontakt. »Nur aus Spaß. Ich wollte sie nicht zwingen. Aber
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