Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
früher oder später erntest du, was du gesät hast. Und wahrscheinlich gab es schon die ganze Zeit Anzeichen. Aber es muss eben auch jemand darauf achten.«
Leo grübelte. »Der Missbrauch«, sagte er und wollte nicht darüber nachdenken. »Du glaubst aber nicht … Ich meine, sein Stiefvater. Vincent Blake. Du glaubst doch nicht …«
»Na ja, der Typ für so was wäre er ja, oder? Aber wie alt war Daniel, als Blake auf der Bildfläche erschienen ist? Zehn? Ich weiß es nicht. Die beiden sind nicht gerade ein Herz und eine Seele, so viel steht fest, aber …« Karen verzog die Lippen. »Aber irgendetwas ist doch trotzdem interessant daran. Findest du nicht auch? An Vincents Verhältnis zu Stephanie.«
»Hm?« Leo war in Gedanken, innerlich aufgewühlt.
»Vincent und Stephanie. Er schikaniert sie, und sie lässt es sich gefallen, aber … Ich weiß nicht. Da ist noch etwas anderes. Er ist unsicher, so viel steht fest. Und auch verbittert wegen irgendwas.«
»Ich dachte, wer andere schikaniert, ist immer unsicher«, sagte Leo beiläufig. »Deshalb muss er die anderen ja schikanieren.«
»Da hast du wohl recht.« Karen sah zu ihm hoch und lächelte. »Warum sitzt du nicht hier, wo ich sitze?«
Leo lächelte nicht zurück. »Das würde ich nur zu gern. Um ehrlich zu sein, würde ich im Moment lieber in jeder anderen Haut stecken als in meiner eigenen.«
17
W arum haben Sie mich denn nicht angerufen?«
»Wir haben Sie doch angerufen, Mr. Curtice.«
»Sofort, meine ich. Sie hätten mich gleich anrufen müssen, als das passiert ist.«
»Es war schon spät. Nach neun. Meiner Erfahrung nach wollen die meisten Anwälte nicht mit Sachen behelligt werden, die auch bis zum nächsten Morgen Zeit hätten. Die mit Kindern sowieso nicht.«
Bobby hielt Leo die Tür auf.
»Das bleibt denen überlassen. Ich hätte mir jedenfalls gewünscht, dass Sie mir sofort Bescheid geben. Sie haben doch meine Privatnummer, oder? Soll ich sie Ihnen noch einmal geben?«
»Nein, nicht nötig, die haben wir. Ich entschuldige mich, Mr. Curtice. So etwas kann leider vorkommen, sosehr wir es zu vermeiden versuchen. Es sind schließlich Jungs. Wenn Sie irgendwie Ärger machen können, dann tun sie es. Aber wir wissen jetzt Bescheid und werden Sie beim nächsten Mal direkt informieren.«
Leo verlangsamte seinen Schritt. »Beim nächsten Mal?«
Bobby machte eine Handbewegung – ungeschickt ausgedrückt.
Die Blutergüsse waren nicht so schlimm, wie Leo befürchtet hatte. Ein blaues Auge, hatte Bobby ihm gesagt, eine aufgeplatzte Lippe. Eine bewundernswert zurückhaltende Ausdrucksweise, und trotzdem hatte Leo Daniel mit zugeschwollenen Augen vor sich gesehen, blutüberströmt und mit ausgeschlagenen Zähnen. Dabei war es bis auf die Verfärbung schwer zu sagen, welche Schwellung von einer Faust verursacht worden war und was einfach nur vom vielen Weinen herrührte. Nicht, dass das den Anblick des Jungen erträglicher gemacht hätte. Schließlich war nicht der Grad an körperlicher Härte ausschlaggebend dafür, wie elend er sich nach dem Angriff fühlte.
Seinem Anblick nach zu urteilen, war das genau das richtige Wort. Wie ein Häuflein Elend lag er auf dem Bett, den Rücken am Kopfende zur Wand gerichtet, die Knie bis ans Kinn gezogen und die Arme schützend um die Schienbeine geschlungen. Die Vorhänge im Zimmer waren zugezogen, aber der Stoff war dünn und der Tag hell. Selbst in der dunkelsten Ecke des Raums war Daniel ungeschützt.
Leo zog die Tür hinter sich zu. Garrie, der Security-Mann, war nicht mit hereingekommen, aber er hielt sich in den letzten Tagen ohnehin etwas im Hintergrund. Die Tür war jedoch immer offen geblieben, und Leo fiel auf, dass er zum ersten Mal richtig mit Daniel allein war: unbegleitet, unbewacht, unbeobachtet. Es beunruhigte ihn nicht, wie es früher vielleicht der Fall gewesen wäre. Es machte ihn eher traurig, und irgendwie beschämte es ihn auch.
Daniel sagte nichts. Leo spürte, wie ihm der Blick des Jungen von der Tür bis zum Stuhl folgte. Er stellte seine Aktentasche ab, ganz vorsichtig, so dass sie kein Geräusch machte. Er blieb stehen, bis er sich dabei unwohl fühlte, dann setzte er sich.
Daniel sah beiseite, verbarg seine verquollenen Augen unter den angewinkelten Knien.
»Was für Beschimpfungen?«
Daniel antwortete nicht.
»Einfach nicht beachten. Hörst du? Es ist egal, wie sie dich nennen. Es ist egal, was sie über dich denken.«
Daniel fuhr sich mit der Hand über die
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