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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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förmlich aus ihm heraus.
    Leo holte tief Luft. »Ich finde …« Ich finde, ich sollte das nicht entscheiden müssen. Ich glaube, irgendjemand irgendwo in diesem System zwingt mich, eine Entscheidung zu treffen, weil es sonst niemand tun will. »Ich finde, du hast eine sehr schlimme Tat begangen«, sagte Leo. Er rechnete damit, dass Daniel wegsehen würde, aber der Junge hielt seinem Blick stand. »Aber vor allem brauchst du Hilfe. Ich bin der Meinung, dass dir unrecht getan wurde und man die Verantwortlichen irgendwann einmal hätte zur Rechenschaft ziehen müssen. Wenn du auf schuldig plädierst, nimmst du mehr auf dich, als du verdienst. Finde ich zumindest.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Alle anderen wären damit aus dem Schneider – zu Unrecht, wie ich finde.«
    Daniel antwortete nicht sofort. »Habe ich denn eine Chance? Wenn ich mache, was Sie sagen?«
    Und genau das war die Frage.

18
NICHT GERADE STRANDWETTER, STIMMT’S, LEO?
KEINE LÜGEN KEINE AUSREDEN
LETZTE CHANCE. GIB DEN FALL AB
    Diesmal waren keine Glasscherben darin. Das hätte ihn erleichtern sollen. Aber der Gedanke, dass er – wer auch immer er war – seine Drohung wahr gemacht und ihn verfolgt und beobachtet hatte, war beunruhigender, als wenn der Umschlag mit Rasierklingen gespickt gewesen wäre. Und wenn es die Absicht des Schreibers war, ihn in Alarmstimmung zu versetzen – in Panik –, dann hätte er kaum Worte finden können, die Leo zielsicherer getroffen hätten. Wenn er darüber nachdachte, kam es ihm fast vor, als ob … Nein. Was für ein lächerlicher Gedanke. Er hatte es mit einem Verrückten zu tun. Einem Gestörten. Es konnte einfach nicht sein, dass irgendjemand, den Leo kannte … Dass jemand von der Arbeit, wie etwa … Terry zum Beispiel. Sicher, er war neidisch, aber zu so etwas würde sich nicht einmal Terry herablassen.
    Dann also näher an zu Hause. Wer war erpichter darauf, dass er den Fall abgab, als seine Frau? Sie hatte ihn wiederholt darum gebeten, und Leo hatte sich immer geweigert. Sie konnten kaum noch miteinander reden, ohne dass das Gespräch auf Daniel kam. Und wenn Megan vielleicht noch verzweifelter war, als sie wirkte? Diese Sache mit dem Mann am Fenster zum Beispiel. Hatte Leo nicht insgeheim den Verdacht, dass sie diese Geschichte nur erfunden hatte? Oder zumindest etwas übertrieben, die Lage absichtlich dramatisiert? Und diese Formulierung. Nicht gerade Strandwetter. Hatte Leo Megan gegenüber nicht genau diese Formulierung benutzt?
    Oder Ellie? Was war mit Ellie? Sie war mit am Strand gewesen. Und auf ihre stillere, sorgenvollere Art schien Ellie sogar noch verzweifelter zu sein als ihre Mutter. Leo hatte das dem Vorfall mit der Tinte zugeschrieben, ihren Problemen in der Schule, aber vielleicht war der letzte Brief auch ein Wink gewesen. Ein Geständnis. UND DEINE TOCHTER? Vielleicht wollte Ellie damit auf ihre Art sagen …
    Deine Tochter. Deine Frau. Um Himmels willen, Leo!
    Er zerknüllte den Brief. Das Papier gab leicht nach, zumal Leo es schon einmal zerknüllt und in seinem Büro in den Papierkorb geworfen hatte, nach dem ersten Lesen. Wieder verspürte er den Drang, es wegzuwerfen, aber stattdessen zog er seine Nachttischschublade auf und stopfte den Brief zwischen seine Socken und sein Notfallgeld, auf die anderen beiden Briefe in ihren Umschlägen.
    Er stand auf, die Matratze federte nach, und er wandte sich zur Tür.
    »War er das?«
    Auf der Schwelle stand Ellie. Sie war barfuß, hatte feuchtes Haar und war in einen Bademantel gewickelt, der an ihren Schultern herabhing. Sie hielt ein Handtuch in der Hand, ebenso feucht wie ihr Haar, außerdem ein Buch und eine Haarbürste. Ihre Wangen waren gerötet: vom heißen Badewasser, nahm Leo an, aber hätte seine Tochter in einem anderen Aufzug vor ihm gestanden, hätte er sich sicher gefragt, ob sie wohl geweint hatte.
    »Ellie. Ich hab dich gar nicht kommen hören.« Leo trat ein Stück vom Nachttisch weg in Richtung Tür und widerstand dem Drang, sich noch einmal umzudrehen.
    »War er das?«, fragte Ellie noch einmal. »Was du da gerade gelesen hast?«
    »Bitte? Was meinst du?«
    »Der Artikel. Ich hab Mum gehört«, fügte Ellie hinzu, als Leo die Stirn runzelte. »Geht sie irgendwohin? Warum hat sie gesagt, sie geht weg?«
    »Weggehen? Was meinst du damit? Wer geht weg?«
    »Ich weiß nicht. Mum hat mit Grandma gesprochen. Und sie hat irgendwas davon gesagt, dass sie …« Ellie schüttelte den Kopf, als wüsste sie

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