Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
dann …
Dann hielt sie inne. Verstummte. Sie sah Leo an und neigte den Kopf. Sie sagte irgendetwas, es war eine Frage, und Leo sah hoch zu seiner Frau, konnte aber nicht antworten. Denn er hatte recht gehabt. Jetzt, wo er losgelassen hatte, geriet er ins Rutschen, auf einmal schien die ganze Welt nachzugeben. An ihre Stelle trat Leere, nichts als Leere, ein um sich greifendes Schwarz und die Worte auf dem Blatt, das er aus der Tasche gezogen hatte und jetzt aus irgendeinem Grund seiner Frau entgegenstreckte:
DU HÄTTEST HÖREN SOLLEN
DU VERDIENST KEINE TOCHTER
Mit Blut geschrieben und mit Haaren von Ellie unterstrichen.
S ie ist selbst zu früh, aber er sitzt bereits am Tisch. Das ist nicht seine Art, denkt sie. Aber andererseits, was weiß sie heute eigentlich noch über ihn?
Sie zieht den Mantel aus, aber niemand nimmt ihn ihr ab. Als auch niemand kommt, um sie zum Tisch zu führen, nimmt sie den Mantel über den Arm und geht allein durch das Restaurant. Es ist Brunch-Zeit und recht viel los, und sie muss den Mantel hochheben, sich zwischen den Tischen hindurchschlängeln und sich mehr als einmal dafür entschuldigen, den Stuhl eines anderen Gastes angestoßen zu haben. Als sie schließlich am Tisch anlangt, schwitzt sie und ist feucht vom Regen, und ihr Haar sieht wahrscheinlich aus wie Putzwolle. Leo steht auf, um sie zu begrüßen.
Obwohl es lächerlich ist, wenn sie den eigentlichen Grund für ihr Kommen bedenkt, hat sie sich vor genau diesem Moment gefürchtet. Nicht davor, Leo nach so langer Zeit wieder gegenüberzutreten, sondern vor der Frage, wie sie ihren Mann begrüßen soll. Mit einem Kuss auf die Wange, hat sie sich überlegt, aber Leo ist zwischen dem Tisch und der Lederbank eingeklemmt, und Megan müsste sich regelrecht nach vorn werfen. Eine Umarmung – eine Hand auf der Schulter, ihn kurz an sich ziehen –, das ginge auf jeden Fall, aber unter diesen Umständen würde auch das unbeholfen wirken. Ihm die Hand zu schütteln scheidet von vornherein aus, und so gerät Megan ins Schwimmen. Hallo, sagt sie, dann noch einmal, hallo, und dann lässt sie eine Art Lächeln folgen und setzt sich einfach.
Er starrt sie an. Verstohlen streicht sich Megan mit der flachen Hand, so gut es geht, das Haar glatt.
»Gut siehst du aus«, sagt Leo. »Doch, wirklich.«
Trotz ihrer Erleichterung könnte sie gekränkt sein – was hat er denn erwartet? –, aber da er sich ernsthaft gibt und einen unsicheren Ausdruck auf dem Gesicht hat, beschließt sie, dass sie heute versuchen will, nett zu sein. Komplimente sind nicht gerade die Stärke ihres Mannes, so gut kennt sie ihn. Und wenn er mal welche macht, gehen sie ihm ebenso holprig über die Lippen wie Schimpfwörter.
»Du aber auch«, sagt sie, doch das ist tatsächlich eine höfliche Floskel, denn Leo sieht alles andere als gut aus. Er hat sich rasiert und ist ordentlich angezogen – aus dem V-Ausschnitt seines Pullovers schaut ein Hemdkragen hervor, und die Farben haben sogar eine vage Ähnlichkeit miteinander –, aber gegen eine Abgerissenheit tief im Inneren kann auch ordentliche Kleidung nichts ausrichten. Seine Haut ist fahl, sie hat lange keinen Sonnenstrahl gesehen. Er hat abgenommen. Früher hatte er ein paar Kilo zu viel, aber jetzt wirken seine Wangen beinahe eingefallen. Die Haare begannen ihm schon auszugehen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hat, und er ist der Rebellion der restlichen zuvorgekommen, indem er sie ganz kurz hat schneiden lassen. Wer ihn nicht kennt, würde vielleicht sagen, er habe aus der Not eine Tugend gemacht – es ist auf jeden Fall besser als eine überkämmte Glatze. Aber es ist nicht Leo.
Sie entscheidet sich. Wenn sie sich vorher nicht sicher war – jetzt ist sie es.
»Willst du was trinken?« Leo, der schon einen Kaffee vor sich stehen hat, gibt einem vorbeieilenden Kellner ein Zeichen. Der Kellner – noch ein Junge, ein Osteuropäer, schätzt Megan – ist mitten im Schritt stehen geblieben. Er hat keine Zeit, spricht aus dem geschäftigen Treiben und seiner Haltung. Jetzt aber bitte schnell: Was darf es sein?
»Einen Cappuccino?«, fragt Leo. »Stimmt’s?«
Der Kellner nickt und will weitereilen, aber Megan streckt den Arm aus. »Eine Bloody Mary«, sagt sie. »Schön würzig.« Wieder nickt der Kellner. Als Megan sich umdreht, sieht sie Leo nicht an. Sie braucht einen Drink. Sie ist nicht verpflichtet, ihm zu erklären, warum. Und jetzt, merkt sie, entscheidet sie sich vielleicht doch noch
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