Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
einigem Gefummel fand er schließlich den Knopf, löste den Gurt und sprang erneut los.
»Ellie!«
Direkt danach hörte er seinen eigenen Namen, die Stimme seiner Frau. Aber was sie dann rief, ging im schrillen Schulhoflärm unter.
»Ellie!«, rief er noch einmal.
Ein Sportwagen kam auf Leo zu, und Leo schlug mit den Handflächen auf die Motorhaube, genau in dem Moment, als der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam. Irgendjemand brüllte etwas, fluchte, aber Leo drehte sich schnell um und rannte weiter, durch die Lücken zwischen den in zweiter Reihe geparkten Autos hindurch. Er stieß mit einem Mantel zusammen, prallte gegen eine offene Autotür und fand sich schließlich irgendwie auf dem Gehweg wieder.
»Ellie!« Er blieb stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen. Mehrere Passanten blieben jetzt ebenfalls stehen und drehten sich nach ihm um, aber dadurch konnte er noch weniger sehen. Er drängte sich durch ein Stimmengewirr aus Protesten und stand schließlich am Schultor, wo niemand mehr war.
»Wo ist sie?« Er drehte sich nach links, nach rechts, sah Megan, die näher kam, aber noch nicht nah genug war, um auf seine Frage zu antworten. Er packte irgendeinen Jungen an der Schulter. »Hast du Ellie gesehen? Ellie Curtice?« Aber der Junge verzog nur das Gesicht und schüttelte Leo ab.
»Entschuldige. Hey.« Leo griff sich jemand anders, diesmal ein Mädchen in Ellies Alter, aber dem verschlug es vor Schreck offenbar die Sprache.
»Leo! Was machst du denn da?«
»Meg. Wo ist sie? Du hast doch gesagt, sie wartet hier, oder?«
»Ja, aber …« Megan sah auf die Uhr, dann runzelte sie die Stirn; es war wohl schon später, als sie gedacht hatte. »Vielleicht ist sie …« Sie sah sich suchend um und ließ den Satz in der Luft hängen. »Ellie?«, fragte sie. »Ellie!«
Die Menge um sie herum kam langsam zum Stehen. Unter dem rot werdenden Himmel wurde sie bereits kleiner, aber die Schüler und Eltern, die noch nicht gegangen waren, unterhielten sich jetzt nicht mehr, sondern hatten sich zu ihnen umgedreht und starrten sie an. Auf dem Schulhof entdeckte Leo eine Lehrerin, die ihn mit alarmiertem Blick ansah. Sie schnappte sich eine Schülerin und führte das Mädchen in Richtung Haupteingang. Leo drehte sich weiter in alle Richtungen, blickte suchend in die Gesichter, die ihn ansahen, und rief den Namen seiner Tochter.
»Mr. Curtice?«
Eine Mädchenstimme; Leo kannte sie. Er wandte sich um. »Sophie!« Leo beugte sich hinab und packte die Freundin seiner Tochter an den Schultern. »Hast du Ellie gesehen? Sie müsste eigentlich hier sein. Weißt du, wo sie ist?«
Sophie schüttelte schon den Kopf. »Nein, sie …«
»Sophie!« Megan, sie hockte neben den beiden. »Hast du Ellie gesehen?«
»Nein. Hab ich doch gerade gesagt. Ich hab sie heute Morgen in Mathe gesehen, aber nach der Mittagspause war sie weg.«
Nein. Um Gottes willen, nein.
»Weg?«, fragte Megan. »Wo ist sie denn hingegangen?«
»Weiß ich nicht. Sie …« Sophie verzog das Gesicht. »Au. Mr. Curtice. Sie tun mir weh.«
»Um Himmels willen, Leo, nun lass sie doch los!« Megan zerrte an Leos Arm und drückte gegen seine Schulter. Im selben Moment ließ er Sophie los und taumelte nach hinten, gegen das Tor. Er rutschte daran herunter und saß schließlich auf dem Boden.
»Wohin denn, Sophie? Wo ist Ellie hingegangen?« Jetzt fasste Megan das Mädchen selbst an den Schultern an und sah ihm eindringlich in die Augen.
»Weiß ich nicht. Im Kiosk war sie nicht, deshalb dachte ich, sie wäre im Park. Wir haben ja in letzter Zeit … Also, wir waren …« Das Mädchen sah zu Boden. »Als ich sie heute Nachmittag nicht mehr gesehen hab, hab ich eben gedacht, sie wäre nach Hause gegangen. Dass vielleicht irgendwer irgendwas gesagt hat. Was sie geärgert hat, meine ich.«
Leo konnte nur noch zusehen. Zuhören. Er wollte eine Hand vom Boden heben, aber er spürte, dass er sich dann gar nicht mehr halten könnte.
Megan stand vor ihm und suchte mit den Augen die Straße ab. Sie zitterte ohne ihren Mantel, machte aber keine Anstalten, die Arme um den Oberkörper zu schlingen. Sie sagte etwas, nickte, und Leo bekam am Rande mit, dass sich über den Schulhof hinweg eine Stimme näherte. Ms. Bridgwater. Die Schulleiterin. Sie musste einer Lage, die bereits außer Kontrolle war, ihren Autoritätsstempel aufdrücken. Und dann wieder Megan, die jetzt schrie, wild gestikulierend zur Schule sah, dann auf die Straße und wieder zur Schule und
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