Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
anders. Sie schwankt innerlich so stark, dass jedes Wort von Leo ihre Entscheidung in die eine oder andere Richtung beeinflussen kann.
»Nun«, sagt Leo.
Megan hebt den Kopf. Ihr Mann blickt in seine Kaffeetasse.
»Also.«
»Hast du es also gehört. In den Nachrichten.«
»Ja.« Sie muss sich zurückhalten, um nicht über den Tisch zu greifen. »Leo, ich …« Sag es nicht. Solange du dir nicht ganz sicher bist, sag es nicht. »Was ist passiert? Weißt du Bescheid?«
Ihr Mann hat eine ganz bestimmte Geste. Nicht Fremden gegenüber; die würden sie als unhöflich auffassen. Aber für Freunde und seine Familie hat Leo eine Geste: Er schnipst mit den Fingern, dreht den Kopf weg und kneift die Lippen zusammen, was so viel heißt wie: Ich will nicht darüber reden.
Die wird sie gleich zu sehen bekommen, davon ist Megan überzeugt.
Stattdessen seufzt er. Er nimmt seinen Teelöffel in die Hand, weiß aber offenbar nichts damit anzufangen und legt ihn wieder ab. »Die Kurzfassung oder die lange?«
Der Kellner bringt Megans Bloody Mary, ein Strauß Sellerie in einer Vase voller Blut. Normalerweise würde sie lachen. »Ich muss nirgends mehr hin«, sagt sie stattdessen. Das stimmt zwar nicht, aber was soll’s.
Leo sieht sie an, als wüsste er nicht genau, ob er ihr glauben darf. Am Ende lässt er sich offenbar überzeugen. Noch einmal seufzt er.
Er trauert, merkt Megan. Nach so vielen Jahren und nach allem, was passiert ist, leidet er noch immer. Er trauert um dieses Kind, diesen Jungen – mittlerweile diesen Mann: Der Verlust trifft ihn hart.
Megan zittert. Sie ist machtlos dagegen und kann es auch nicht verbergen.
Aber ihr Mann bemerkt es nicht. Er sucht in seiner Kaffeetasse nach seiner Stimme.
»Es waren die Wärter«, sagt er. »Zwei. Mutmaßlich natürlich. Sie haben nichts gestanden, und soweit ich mitbekommen habe, deckt einer den anderen und schiebt es auf irgendeinen mysteriösen Mitinsassen. Aber ausgerechnet die Wärter. Kannst du dir das vorstellen?« Leo lächelt und schüttelt den Kopf.
Megan blickt auf ihre Hände.
»Er sollte auf Bewährung freikommen«, sagt Leo. »Oder hätte kommen sollen. Vielleicht war das der Grund. Hm. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht war es einfach der Gedanke, dass er rausgelassen würde.« Leo schüttelt erneut den Kopf. »So eine Wut«, sagt er, mehr zu sich selbst. »So eine ungeheure Wut.«
»Erzähl mir doch nicht, dass du das nicht verstehen kannst, Leo. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was … was wir …« Megans Zorn wird übermächtig.
»Wie? Nein. Meg, bitte. Ich wollte nicht …«
Sie dreht den Kopf zur Seite, presst die Lippen zusammen. Sie merkt, dass Leo nach Worten sucht, um sie zu besänftigen, aber diese Mühe kann er sich sparen, denn es gibt keine, nicht in diesem Moment. Ihr Mann scheint zu demselben Schluss gekommen zu sein; die Stille dehnt sich weiter aus.
Als Megan ihn wieder ansieht, meidet er ihren Blick.
»Die Wärter also«, sagt sie. Ihre Stimme ist angespannt, aber gefasst. »Im Gefängnis, meinst du?«
Jetzt sieht Leo sie an wie ein Kind, das unter der Bettdecke hervorspäht. Er nickt vorsichtig. »Ja.« Er räuspert sich. »So heißt es.« Er richtet sich auf.
»Was haben sie …« Auch Megan richtet den Oberkörper auf. »Die Wärter. Also, wie haben sie …«
Leo antwortet nicht gleich. Wieder sieht er sie wortlos an. Sie spürt, dass er fragen will: Willst du das wirklich wissen? Vielleicht nicht, aber um das einzugestehen, ist es jetzt zu spät.
»Sie haben ihn erstochen«, sagt Leo, und damit hat es sich, denkt Megan – wenigstens können sie jetzt zu anderen Themen übergehen. Aber für Leo ist das Thema noch nicht abgehakt. »Sie haben auf ihn eingestochen und seine Lunge getroffen. Dann haben sie ihn in der Duschkabine eingesperrt und durch die Scheibe zugeguckt, wie er an seinem eigenen Blut erstickt ist. Mutmaßlich«, fügt Leo hinzu. Sein Lächeln käme jedem anderen gefährlich vor.
Megan schließt die Augen. Sie macht eine Handbewegung, so als hätte Leo nicht bereits aufgehört zu reden.
Als sie sich wieder gefasst hat, sieht sie, dass er sie beobachtet. In seinem Blick liegt etwas, das dort vorher nicht war.
»Er ist tot, Megan. Daniel Blake ist tot.«
Sie schüttelt den Kopf. Was soll denn das …
»Deshalb bist du hier, stimmt’s? Deshalb wolltest du mich treffen. Aber er ist tot, versprochen. Sie wollten Blut sehen, und jetzt sind sie zufrieden.«
Und du auch, scheint sein
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