Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
nutzen mussten. So viel war Leo klar, er hatte genug Ahnung von solchen Dingen. Er wusste, was jede weitere Stunde, die verstrich, sie kosten würde, dass die Chancen mit jedem verlorenen Tag schlechter standen. Deshalb sah er andauernd auf die Uhr, überwachte sie argwöhnisch, damit die Zeit ja nicht zu schnell verging. Aber es war wie mit einem gierigen Kind, das seine klebrigen Finger ausstreckte, sobald man einmal nicht hinsah. Und wenn es einmal zulangte, dann ordentlich.
Schneller. Langsamer. Eigentlich wäre ihm beides gleichzeitig am liebsten gewesen, obwohl er die Uhr am Ende weder beschleunigen noch bremsen konnte. Er spürte nur seine Trauer – eine Wunde mit reißenden Rändern – und den Klammergriff seiner Schuld, der ihn fast ersticken ließ.
Leo sah, dass seine Frau ebenfalls litt, und in gewisser Weise war das am schwersten zu ertragen.
Innerhalb weniger Stunden wurde ihre Ehe zu einem Zweckbündnis. Dieser Statuswechsel, diese Abwertung wurden Leo bewusst, als er seine Frau ansah, wie sie ihm dabei zuhörte, wie er der Polizei die Liste seiner Dummheiten aufzählte. Von nun an war Megan nur noch an seiner Seite, weil sie ein gemeinsames Ziel hatten, einen gemeinsamen Feind. Es ging nur noch darum, Ellie zu finden, sonst zählte nichts mehr. Alles andere musste warten.
Das Warten. Sie sollten die Hoffnung nicht aufgeben, sagte man ihnen – es gebe keinen Grund, warum Ellie nicht mehr am Leben sein sollte. Drohbriefe schreiben war das eine, aber jemanden umbringen … Das war noch einmal etwas anderes.
Aber das Warten, so würden sie feststellen, sei das Schwerste. Wenn es nichts Neues gibt, man nichts weiß, das tue immer am meisten weh. Was eigentlich Blödsinn war. Absoluter Quatsch. Leo hätte lieber nichts gewusst als das, was er wusste. Er hätte lieber das Warten ertragen als die Angst, dass es vergebens sein würde.
Aber am ersten Tag war ohnehin keine Zeit zum Warten. Sie waren an der Schule, dann in der Schule und dann auf der Wache, die Leo so gut kannte. Auf Fragen und noch mehr Fragen folgten Aussagen und Tränen, und dann fuhren sie im Einsatzwagen zurück nach Linden Park. Als sie ankamen, packte ein Team von Kriminaltechnikern schon zusammen; sie hatten die Spuren im Umkreis des Hauses gesichert, soweit es welche gab. Vielleicht war was Brauchbares dabei, hörte Leo sie sagen, wohl eher nicht. Eine Polizistin hatte sich im Haus unauffällig neben dem Telefontischchen postiert und bot an, wie sie es offenbar in der Ausbildung gelernt hatte, die Stellung zu halten und Tee zu kochen. Die Briefe hatten ihre Kollegen bereits an sich genommen – Leo hatte ihnen auf der Wache gesagt, wo sie sie finden würden –, aber der Polizist, der sie gefahren hatte, brauchte ein Foto, wenn es ihnen nichts ausmachte: etwas Aktuelles. Ein einziges genügte, versuchte er ihnen klarzumachen, aber Megan drückte ihm schließlich einen ganzen Schuhkarton in die Hand.
Ab da, nahm Leo an, hätte eigentlich das Warten beginnen können. Aber Megan rief alle möglichen Leute an – Freunde, Verwandte, erste Flammen, mutmaßliche erste Flammen und sogar Krankenhäuser, obwohl die Polizei sich um die Krankenhäuser kümmerte. Zuerst hörte Leo durch die Küchentür zu. Es war keine weitere Leitung mehr frei – Megan telefonierte von einem Prepaid-Handy aus, das ihr die Polizei gegeben hatte, und das Festnetz musste selbstverständlich frei gehalten werden –, und davon abgesehen wusste Leo auch nicht, wen er hätte anrufen sollen. Und was hätte ihnen irgendjemand denn schon sagen können? Sie wussten bereits, wer Ellie nicht hatte. Sie wussten, wo ihre Tochter nicht war. Leo hörte also bloß zu, bis die Ersten aus Megans Familie eintrafen, und da riss er einen Schal von der Garderobe und stürzte sich hinaus in die Nacht.
Er wollte fahren. Er hatte zwar die Autoschlüssel in der Hand, konnte sich aber, in der Garage angekommen, nicht mehr erinnern, was mit dem Wagen passiert war. Wahrscheinlich stand er noch an der Schule. In zweiter Reihe geparkt, jetzt also mitten auf der Straße. Natürlich nicht, aber irgendwie ergab es trotzdem Sinn, noch einmal hinzugehen und nachzusehen. Es war nahe dem Ort, an dem Ellie zum letzten Mal gesehen worden war, also körperlich so nah bei seiner Tochter, wie Leo es sich im Moment vorstellen konnte.
Die Kälte trieb ihn voran. Drei Stunden später – er hielt immer noch die Autoschlüssel in der Hand – zwang sie ihn zurück. Er war so begierig
Weitere Kostenlose Bücher