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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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innerlich ebenso abgerissen wie äußerlich. Seine Kleidung war zerknittert, seine Augen wund und sein Haar wirr und vom Kissen zerdrückt. Er sah wohl ungefähr so aus wie Leo.
    »Er hat gesagt, Sie wären gerade nicht da. Verreist!«
    »Was? Nein!« Wieder streckte Leo den Arm aus, damit Daniel nicht noch weiter zurückwich, aber der Junge drehte die Schulter weg. »Es war wegen meiner Tochter. Sie wurde … Sie brauchte mich. Sie brauchte meine Hilfe.«
    »Ich auch!«
    »Ich weiß, aber Ellie …« Du hast sie umgebracht, Daniel. Du und ich, wir beide haben sie umgebracht. »Ich wäre gekommen. Das schwöre ich. Ich habe es ja versucht, aber …«
    Aber es hätte nichts geändert. Es hätte sich länger hingezogen, es wäre schwerer gewesen, und die Enttäuschung wäre umso größer gewesen. Aber am Ergebnis hätte es nichts geändert.
    Leo ließ den Kopf sinken und grub die Finger in sein Haar.
    »Haben Sie es gesehen?«, fragte Daniel nach einer Weile. »Ich bin in allen Zeitungen! Haben sie mir erzählt. Echt in allen.«
    Langsam nickte Leo. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Ich weiß.« Er fasste sich wieder oder versuchte es zumindest. »Aber hör mir bitte zu. Daniel? Hörst du mir mal zu?«
    Der Junge gab ein Murren von sich: Warum sollte ich? Aber er wurde still.
    »Es geht vorbei. Das verspreche ich dir. Die Hetze in der Presse, die öffentliche Empörung und wie du dich jetzt fühlst: Das legt sich alles wieder. Das ver…«
    »Hören Sie auf! Ich hab Ihre Versprechungen satt! Sie versprechen andauernd irgendwas, und dann ist es immer eine Lüge!«
    Das war unfair. Er hatte nie irgendetwas versprochen, nicht ein einziges Mal. Er hatte nur gesagt, dass er sein Bestes tun würde, mehr nicht.
    Er hatte nie das Wort »Versprechen« benutzt. Das war der einzige Unterschied. Aber gegeben hatte er trotzdem eins.
    »Du weißt doch, dass sie dich schützen werden, nicht wahr? Und später, wenn … Du wirst einen neuen Anfang machen können. Mit einer neuen Identität. Sie werden geheim halten, wer du wirklich bist.«
    »So wie jetzt, meinen Sie? Wie Sie es behauptet haben?« Der Junge stand mittlerweile mit dem Rücken zur Wand. Obwohl Leo zwei Schritte auf Abstand blieb, verhielt sich Daniel, als würde er zurückgedrängt, von der Hetzpresse in die Enge getrieben.
    »Dieses Mal ist es anders, das ver…« Leo bremste sich. »Das ist etwas anderes. Diesmal kann der Identitätsschutz nicht einfach so aufgehoben werden.« Du lügst, sagte eine Stimme: halb die von Daniel, halb seine eigene. Du tust genau dasselbe wie beim letzten Mal. Und nur, weil du hoffst, dass etwas wahr ist, ist es nicht weniger gelogen.
    Daniel glaubte ihm jedenfalls nicht. Er schüttelte den Kopf, wobei sich seine Tränen lösten.
    »Sie haben ihn nicht gehört. Den Richter, was er gesagt hat. Wenn Sie da gewesen wären, hätten Sie ihn gehört. Sie hassen mich. Alle hassen mich.«
    Wieder streckte Leo die Hand aus. Er konnte einfach nicht anders. Daniel wich zurück, und Leo ließ die Hand wieder sinken.
    »Nein, das stimmt nicht.« Wieder diese Stimme, aber er ignorierte sie. Sicher war es besser zu lügen. Dem Jungen so etwas wie Hoffnung zu geben. »Sie verstehen es einfach nicht. Sie sind wütend und aufgebracht, und sie wollen …« Blut sehen, kam ihm spontan in den Sinn. »Sie brauchen einen Sündenbock. Du hast etwas wirklich sehr Schlimmes getan, Daniel. Das verstehst du doch, oder?«
    Der Junge nickte, das Gesicht voller Schleim und Tränen. Er schniefte, dann wischte er sich mit dem Ärmel die Nase ab.
    »Und wenn jemand etwas Schlimmes tut, dann … dann werden die anderen wütend. Manchmal so wütend, dass sie andere wichtige Dinge vergessen. Wie zum Beispiel Verständnis. Mitgefühl. Vergebung.«
    »Ich hab doch gesagt, es tut mir leid! Sie haben mir nicht geglaubt. Aber es tut mir leid. Es tut mir wirklich, wirklich leid.«
    »Ich weiß. Und sie werden dir auch zuhören. Mit der Zeit. Der Schmerz wird nachlassen und … und …« Der Schmerz wird nachlassen. Wen wollte er denn diesmal anlügen? »Wichtig ist jetzt, dass du Hilfe bekommst, Daniel. Erinnerst du dich an Karen? Sie will dir helfen. Dazu ist sie fest entschlossen. Und es gibt noch mehr Leute wie sie. Nette Leute, keine …« Keine was?
    Der Junge zitterte.
    »Du musst dir von ihnen helfen lassen. Das ist genauso wichtig. Du musst diesen Menschen vertrauen, Daniel. Vor allem Karen.«
    »Aber sie war doch da! Ich hab sie gesehen. Und sie hat

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