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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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nichts gesagt! Ich dachte, Sie hätten gesagt, sie sagt was!«
    »Ich weiß, aber so einfach ist das nicht. Sie …«
    »Und Sie! Ich hab Ihnen vertraut!«
    Leo sah weg, auf den Boden. Garrie, der Security-Mann, beobachtete sie. Leo hatte ganz vergessen, dass er auch noch anwesend war. Keiner der beiden Männer wollte dem anderen in die Augen sehen. Der Raum war erfüllt von Daniels halb unterdrücktem Schluchzen.
    »Was passiert jetzt?«, brachte der Junge heraus. »Wohin werde ich geschickt?«
    Leo presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
    »Stash, einen von den älteren Jungs, den haben sie in den Knast gesteckt. Letzte Woche. In einen richtigen Knast. Mit Mördern und so.«
    »Aber er war achtzehn. Erwachsen. Hast du das nicht zu mir gesagt? Du bist zwölf, Daniel. Du kommst in so eine ähnliche Einrichtung wie diese hier. Kein Gefängnis, sondern ein …« Wieder schüttelte Leo den Kopf. Wieder ließ ihn das Vokabular im Stich.
    »Aber irgendwann werde ich achtzehn! In fünf oder sechs Jahren oder so. Dann stecken sie mich doch in den Knast. Oder nicht?« Der Junge sah ihm tief in die Augen, hielt Ausschau nach der Lüge.
    Leo zögerte, dann nickte er, so leicht er konnte. Doch selbst eine so schwache Bestätigung genügte. Der Junge sackte förmlich in sich zusammen und gab ein Geräusch von sich, irgendetwas zwischen einem Stöhnen und einem Wimmern.
    Als Leo diesmal den Arm nach Daniel ausstreckte, wehrte sich der Junge nicht. Er drückte das Gesicht an Leos Brust und klammerte sich so fest an ihn, wie man es ihm angesichts seiner schmalen Gestalt kaum zugetraut hätte. Leo schloss die Arme um die Schultern des Jungen, die er mühelos umfangen konnte. Daniel hatte in etwa die Statur von Ellie, fiel Leo auf: genauso dünn, genauso zerbrechlich. »Ist ja gut«, sagte er, »ist ja gut«, und er dachte an das letzte Mal, als er seine Tochter so in den Armen gehalten hatte, und musste sich zusammenreißen, um ihn nicht zu fest an sich zu drücken.

    Bobby wartete im Gang auf ihn. Er hatte wahrscheinlich nicht zugesehen oder zugehört, aber selbst wenn, wäre seine Miene – besorgt und sanft, aber hauptsächlich bedauernd – kaum eine andere gewesen.
    »Er wird dankbar sein«, sagte Bobby. »Wenn er erst einmal richtig darüber nachdenkt, wird er merken, dass er froh war über Ihren Besuch.«
    Leo sagte nichts. Er wischte sich über ein Auge.
    »Ich begleite Sie«, sagte Bobby. »Einverstanden?«
    Diesmal nickte Leo. Sie gingen im Gleichschritt.
    Leo räusperte sich. »Waren seine Eltern da? Seine Mutter?«
    Bobby holte tief Luft und nickte beim Ausatmen. »Ja. Aber nicht lange. Sie … Mrs. Blake … Sie hat es sehr schwer genommen. Und der Stiefvater in gewisser Weise auch.«
    Sie kamen an eine Doppeltür, die sie umständlich passierten. Danach gingen sie noch ein paar Schritte schweigend nebeneinander her.
    »Was ist mit Daniel?«, fragte Leo. »Wie lange wird er noch hier bleiben?«
    Bobby verzog den Mund. »So lange sie ihn lassen. Wahrscheinlich nicht mehr lange, wenn der Innenminister dann seine Entscheidung gefällt hat und der Resozialisierungsplan feststeht. Aber Sie wissen ja, es war von vornherein nur eine Zwischenstation. Wir sind eigentlich nicht auf so junge Menschen wie Daniel eingestellt.«
    Leo schniefte. »Wo ist man das schon?«
    Bobby drehte sich ein Stück zur Seite, so als überlegte er, ob er sich stellvertretend für seine Kollegen angegriffen fühlen sollte. »Es gibt einige sehr gute Einrichtungen, Mr. Curtice. Alles in allem.«
    »Alles in allem?«
    Bobby zuckte mit den Achseln. »Einrichtungen wie unsere sind auf der Prioritätenliste nicht gerade weit oben. Für die Regierung stehen wir ungefähr auf einer Stufe mit Asylbewerbern und alleinerziehenden Müttern. Also auf einer ziemlich niedrigen.«
    »Das überrascht mich nicht.«
    »Nein, das denke ich mir. Aber wir kommen klar. Wir und die anderen. Es hilft, wenn man die richtigen Leute betreut. Jungen in Daniels Alter bekommen übrigens die beste Betreuung von allen, werden Sie feststellen. Erst wenn sie älter werden, erwachsen, dann werden sie manchmal … Ich meine, es ist unvermeidlich, dass sie an irgendeinem Punkt …«
    »Sich selbst überlassen werden.«
    Bobby sah ihn kurz an.
    Sie gingen weiter.
    »Er hat Angst, wissen Sie«, sagte Leo. »Regelrechte Panik.«
    Bobby nickte. Die beiden Männer sahen auf den Boden, der unter ihren Füßen hinwegzog.
    »Meinen Sie, zu Recht?«

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