Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
wurde.
Er hustete, und einer der Männer fuhr zusammen.
»Mr. Curtice.«
Leo hob den Kopf. Bobby war durch eine Tür gekommen. Er kam ein Stück näher und sah ungefähr so aus, wie Leo sich fühlte, wenn er sich mit einer Klassenkameradin seiner Tochter unterhalten musste.
Gefühlt hatte.
»Ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet. Haben Sie angerufen? Niemand hat etwas davon gesagt …« Bobby wechselte einen kurzen Blick mit den Männern hinter dem Tresen, die ohne Worte sagten: Sehen Sie mich nicht an.
»Nein«, erwiderte Leo. »Tut mir leid, ich hätte mich anmelden sollen. Ich war mir, ehrlich gesagt, selbst nicht ganz sicher, ob ich komme. Erst als ich auf dem Parkplatz stand.« Was nicht dazu beitrug, dass irgendjemandem weniger mulmig zumute war.
»Daniel ist … Also, ich nehme an, deshalb sind Sie …«
»Meinen Sie, er empfängt mich?«
»Na ja, ich glaube, er hat Sie früher erwartet.«
»Ich weiß. Tut mir leid. Aber kann ich ihn jetzt besuchen?«
Bobby sah zu Boden. »Sehen Sie, Mr. Curtice. Leo. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Bitte. Ich möchte gern mit ihm sprechen.«
Bobby setzte zu einem Kopfschütteln an, aber er kam nicht dazu.
»Bitte, fragen Sie ihn einfach«, redete Leo weiter. »Würden Sie das tun? Ich will ihm nur das eine oder andere erklären. Mehr nicht. Bitte.«
Noch einmal sah Bobby hilfesuchend zu seinen Kollegen. Ausdruckslos und neugierig blickten sie zurück, und schließlich seufzte Bobby.
»Warten Sie hier.«
Es war ein Fehler. So viel stand gleich zu Beginn fest. Daniel hatte dem Besuch zugestimmt, aber er wollte ihn nicht in seinem Zimmer empfangen. In dieser Bedingung lag ganz klar eine Bedeutung, die für einen Zwölfjährigen sicher noch eindeutiger war als für Leo. Als Leo den Besuchsraum betrat, war ohnehin Schluss mit jeglicher Zweideutigkeit. Er war nicht willkommen. Ganz gleich, was er ihm sagen wollte, Daniel wollte es nicht hören.
»Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Daniel. Hör mir zu. Ich bin wahrscheinlich der letzte Mensch auf der Welt, den du jetzt …«
»Lassen Sie mich in Ruhe! Haben Sie gehört? Mehr habe ich nicht zu sagen. Nur deshalb hab ich denen gesagt, sie sollen Sie reinlassen.« Er war aufgestanden, die Hände zwei kraftlos wirkende Bündel links und rechts von ihm. Er sah Garrie an, der die weißgetünchte Wand hinten im Raum bewachte. »Sie können ihn jetzt rausschmeißen. Wir sind fertig.«
Garrie bewegte sich, aber nur ein klein wenig.
»Warten Sie.« Leo hob die Hand. »Bitte, gib mir nur noch eine Minute. Mehr nicht. Nur eine Minute.«
»Sie haben gelogen. Ich hasse Sie. Und Ihre Freundin auch. Ihr seid alle Lügner!«
Daniels Worte ließen Leo zusammenzucken. Nicht die Beschimpfung als Lügner: Damit hatte er gerechnet. Es war die hasserfüllte Miene des Jungen, die ihn traf. Ellie hatte einmal dasselbe zu Leo gesagt – vor ein paar Monaten, die sich jetzt anfühlten wie ein halbes Leben –, und es traf ebenso präzise wie damals den Punkt, an dem es weh tat.
»Du hast recht«, sagte Leo. »Ich habe dich im Stich gelassen.« Daniel stand neben dem Tisch, und Leo stellte sich so, dass er den dazugehörigen Stuhl berühren konnte. Es war das Einzige, was zwischen ihnen war, in einem ansonsten praktisch leeren Raum. »Aber ich habe nicht gelogen, Daniel. Selbst Terry hat nicht gelogen. Wir haben uns geirrt, das ist alles. Wir haben uns beide geirrt.«
»Was ist der Unterschied?« Daniel ging ein kleines Stück zurück. »Sie haben gesagt, Sie helfen mir!«
»Das wollte ich ja! Das wollten wir beide. Ich dachte, ich könnte es, aber …« Aber was? Aber es hätte dir niemand helfen können? Wie sollte man einem Zwölfjährigen vermitteln, dass der Hass oft stärker ist als die Menschlichkeit? Dass die Justiz manchmal blind, taub und stumm ist? »Ich habe mich geirrt«, sagte Leo. Er legte Daniel die Hand auf die Schulter, und der Junge ließ es sogar zu. »Tut mir leid, Daniel. Es tut mir wirklich ganz schrecklich leid.«
Mit einem Ruck wich der Junge zurück und schlug auf Leos Arm ein. In Daniels Augen wallten Tränen auf.
»Warum sind Sie gegangen? Wenn es Ihnen so leidtut, warum haben Sie mich dann im Stich gelassen?«
Für einen Moment geriet Leo ins Schwimmen. Er wusste es also nicht. Er war davon ausgegangen, dass Daniel Bescheid wusste.
»Hat Terry dir das etwa nicht gesagt?«
Daniel schüttelte den Kopf, heftiger als für eine Antwort nötig. In diesem Moment wirkte es, als wäre er
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