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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Spur kommen würden. Irgendwie und irgendwann – mit den heutigen Möglichkeiten. Wenn er also fliehen würde. In Panik geraten. Wenn er den Eindruck hätte, dass die Zeit knapp wurde. Dann würde er sie freilassen. Oder etwa nicht? Ganz sicher. Das war das einzig Vernünftige, was er tun konnte. Er konnte sowieso nicht entkommen. Warum also alles noch schlimmer machen? Nicht einfach nur schlimmer: unsäglich, unermesslich viel schlimmer.
    »Leo.«
    Selbst jemand so Verdrehtem wie diesem … diesem Irren musste das klar sein.
    »Leo, du …«
    Und das war er ja wohl. Ein Irrer. Jemand, der nicht ganz richtig im Kopf war. Leo mochte sich gar nicht vorstellen, was ihm widerfahren sein musste, dass er so geworden war. Es geschah ja nicht in einem Anfall blinder Wut, das alles hier. Oder, wenn ihm die Wut anfangs vielleicht die Sicht vernebelt hatte, so sah er inzwischen doch sicherlich klarer. Zwar nicht so klar, dass sich die Vernunft wieder eingeschaltet hätte, aber doch immerhin so, dass er in der Lage war, zu planen, so zu tun, als ob …
    »Leo!«
    Er fuhr herum. Megan sah ihn jetzt über den Frühstückstresen hinweg an. Irgendetwas in ihr schien zerbrochen zu sein. »Hör auf!«, sagte sie. »Hör bitte verdammt noch mal auf, mit den Fingern zu trommeln!«
    Leo schluckte. Er legte die Hände in den Schoß. Tut mir leid, wollte er sagen, aber seine Kehle und sein Mund waren trocken und wie zugeklebt.
    Stattdessen sagte es Megan. Sie hatte die Augen geschlossen. Sie wollte noch etwas sagen, drehte sich dann aber wortlos wieder um und schaltete den Wasserkocher ein. Es war sicher das dritte oder vierte Mal, dass sie ihn anstellte.
    Leo musterte sie. Sie trug einen Schlafanzug, genau wie Leo, und den Pullover, den sie am zweiten Tag aus dem Schrank geholt hatte: einen Rollkragenpullover, den sie ihre Wärmflasche nannte und nur trug, wenn sie krank war. Er war an den Nähten abgewetzt und zwei Nummern zu groß, so dass ihr die Ärmel weit über die Handknöchel reichten und die Schulternähte bis auf die Oberarme herabhingen. Sie hatte ihr Haar zu einem losen Knoten zusammengebunden und trug kein Make-up auf ihrer fahlen Haut – und das nicht nur, weil es mitten in der Nacht war.
    Leo schluckte noch einmal und schob seinen Stuhl zurück. Er rutschte quietschend über die Keramikkacheln, und Leo sah an Megans Rückgrat, dass ihr das Geräusch durch und durch ging. Sie drehte kurz den Kopf in seine Richtung, dann fasste sie den Griff des Wasserkochers an, als würde das Wasser dadurch schneller kochen. Leo berührte den Stuhl, den Tisch, die Anrichte. Er ging von einem Möbelstück zum nächsten. Dann trat er dicht an Megan heran und wollte ihr von hinten die Hände auf die Schultern legen.
    »Nicht.« Megan wich einen Schritt zur Seite und drehte sich um. Sie drückte sich gegen die Kante der Arbeitsplatte und schlang sich die Arme um den Körper.
    »Meg.« Als Leo noch einen Schritt auf seine Frau zuging, schien sie fast zusammenzuzucken.
    »Nicht«, sagte sie noch einmal. »Bitte nicht.«
    Es war das »Bitte«, das am meisten weh tat.
    »Meg. Wir müssen reden. Findest du nicht auch?«
    Sie antwortete nicht – und auf einmal fand Leo ihr Schweigen unerträglich. Nachdem das schon wochenlang so ging. Er um sie herumschlich und sie ihn mit passiver Verachtung strafte. Nichts wurde ausgesprochen, alles schwang mit, selbst in den kühlen, nüchternen Sätzen, die sie wechselten. Keinerlei Körperkontakt, obwohl sich Leo nichts sehnlicher wünschte, als seine Frau in die Arme zu nehmen und von ihr in die Arme genommen zu werden. Ein- oder zweimal waren sie versehentlich zusammengestoßen, in Türen oder an Ecken, und er hatte für einen Moment ihren Geruch – ihre Wärme – gespürt, aber Megan hatte sich ihm jedes Mal energisch entzogen. Sie hatte nicht einmal ausgepackt. Der Koffer, den sie am Tag von Ellies Entführung gepackt hatte, lag aufgebläht auf dem Boden im Zimmer ihrer Tochter. Ihre Familie war wieder nach Hause gegangen – sie schlief zumindest zu Hause, auch wenn Megans Mutter jeden Morgen um neun wieder vor der Tür stand –, aber Megan selbst verhielt sich wie ein Gast: Sie schliefen getrennt und aßen getrennt, und sie beanspruchte wenig Platz für sich. Eigentlich doch nicht wie ein Gast. Eine Gefangene. Jemand, der in der Falle saß. Und obwohl Leo, soweit er es wagte, alles versucht hatte, um sie beide zu befreien, weigerte sie sich einfach, über das hinauszusehen, was für sie die

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