Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
wollte so schnell wie möglich zurück in seine Wohnung, stolperte dabei aber über den Gürtel seines Bademantels und fiel zur Tür hinein. Mit einem Aufschrei kam er auf dem Boden auf, genau in dem Moment, als Leo die Schwelle erreicht hatte.
»Was wollen Sie? Was wollen Sie hier?« Archie drehte sich um und stützte sich rücklings auf Hände und Füße. Als Leo auf ihn zuging, wich er zurück.
»Die Fotos. Die Sie von meiner Familie gemacht haben. Ich muss sie sehen.«
»Aber woher haben Sie überhaupt …« Archie stieß mit dem Hinterkopf gegen eine Wand. Er rutschte mit einer Hand ab und sank erneut auf den schmuddeligen Teppich. Dann fasste er sich an den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Au. Scheiße, aua.«
Leo zögerte. Der Mann vor ihm sah erbärmlich aus. Unter seinem Bademantel, der an einer Schulter heruntergerutscht war und über seinem mädchenhaften Körper aufklaffte, trug er Boxershorts und ein Unterhemd: ein ähnliches wie Leo, wodurch sich Leo selbst alt vorkam. Er hatte kleine Augen und fahle Haut; ein Zeichen dafür, dass er zu viel Zeit in der Dunkelkammer verbrachte, hätte Leo gesagt, hätte der Mann nicht bei der letzten Begegnung kerngesund ausgesehen.
»Was ist los? Alles okay mit Ihnen?«
»Nein, verdammte Scheiße, nichts ist okay.« Der Mann setzte sich mühsam auf, legte die Arme um die Knie und ließ den Kopf sinken. »Ich bin kurz vorm Verrecken. Was zum Teufel wollen Sie?«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, ich … Hören Sie, wirklich. Kann ich irgendwas für Sie tun?«
Archie lachte, als läge ihm irgendeine geistreiche Bemerkung auf der Zunge, aber das Lachen ging in ein Husten über. »Hätten Sie vielleicht ein bisschen Morphium? Oder einen Kopf zum Austauschen? Vielleicht tut’s auch schon eine Bloody Mary.«
Eine Bloody Mary? Leo ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er beugte sich vor und schnupperte. »Haben Sie getrunken?«
»Vergessen Sie’s.« Archie presste den Handballen an seine Stirn. »Wenn ich nur an Wodka denke, könnte ich schon …«
Leo ging neben ihm auf die Knie, packte ihn am Bademantel und schüttelte ihn. »Die Fotos! Wo sind die Fotos?«
»Au. Verdammt, Mann, ich …«
»Ich hab keine Zeit für so was! Ich brauche die Fotos jetzt. «
»Mann, ey! Müssen Sie so schreien? Ich hab Ihnen doch gesagt, ich bin …«
»Ist mir scheiß-egal!« Jedes Wort war wie eine Ohrfeige. Leo stand auf und versuchte, den Fotografen ebenfalls in die Senkrechte zu ziehen. »Stehen Sie auf! Aufstehen, hab ich gesagt!« Er versuchte ihn hochzuziehen, aber der Mann hing da wie ein nasser Sack. »Ich sage es nicht noch einmal! Aufstehen. Stehen Sie auf, hab ich …«
»Ist ja schon gut!« Archie tastete nach der Wand und rappelte sich langsam auf. »Hören Sie einfach auf, hier so rumzubrüllen, ja?« Er stand jetzt und wischte sich über das bleiche Gesicht. Er blinzelte.
»Die Fo…«
»Ja, die Fotos. Ich bin ja nicht taub. Einen Moment, ja? Geben Sie mir fünf Sekunden.«
Er blickte nach links, nach rechts, dann tappte er weiter in die Tiefen seiner Wohnung hinein. Leo folgte ihm. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer blieb er abrupt stehen, ein so verheerender Anblick bot sich ihm dort. Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ein Schlachtfeld, wobei die Opfer noch beseitigt werden mussten. Auf einem Sofa, das aussah, als könnte es leicht Feuer fangen, lag zwischen mehreren Aschenbechern ein Mädchen, und in einem Sessel lümmelte ein Mann. Unter Jimmy-Hendrix-Postern, die schlaff an den rauchvergilbten Wänden hingen, machten Plattenhüllen und Bierflaschen einander den Platz auf dem Fußboden streitig. Stellenweise war auch der Teppich sichtbar, wobei diese Stellen meist den Umriss von Personen hatten, was darauf schließen ließ, dass es wenigstens einige von Archies Gästen nach Hause geschafft hatten.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, die hab ich gelöscht.«
Leo drehte sich um. Archie sah sich offenbar nach einem Platz zum Hinlümmeln um. Er ließ sich schließlich neben einen gewaltigen Gummibaum sinken, so fern wie möglich vom Tageslicht, das durch die Jalousien hereinsickerte.
Archie hatte recht. Leo hatte es vergessen. Nicht vergessen: Er hatte ihm gar nicht erst geglaubt. »Wirklich?«
Archie zuckte mit den Achseln, schüttelte den Kopf. »Nö.« Mit dem Fuß stieß er einen Laptop an, der neben dem Couchtisch auf dem Boden lag. »Da sind sie drauf. Nur zu. He! Passen Sie auf den Teppich auf!«
Leo hatte in seiner Hast ein
Weitere Kostenlose Bücher