Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
sicher mehr Ahnung als ich, wer hier ein und aus geht. Warum fragen Sie nicht ihn?«
Der Wachmann saß jetzt mit dem Gesicht zur Wand und telefonierte.
»Dieser Fotograf«, sagte Leo zu Cummins. »Der ist uns gefolgt. Mir und meiner Familie. Nach Dawlish. Dabei haben wir dort bloß Eis gegessen.«
Cummins sah ihn kurz an.
»Er hat gesagt, er arbeitet für die Post «, fuhr Leo fort.
Cummins drückte noch einmal den Aufzugsknopf. Er schniefte, schüttelte einmal den Kopf. »Darryl Blunt. Der Lifestyle-Redakteur. Scheint vergessen zu haben, dass das hier nicht das OK! -Magazin ist. Ich kann mich nur entschuldigen, Leo. Ich rede mit Daz. Sag ihm, er soll seine Paparazzi zur Ordnung rufen.« Er sah auf die Leuchtanzeige und wippte mit dem Fuß.
»Sie waren das«, sagte Leo. »Hab ich recht? Sie haben ihn geschickt. Sie haben vom ersten Tag an nach irgendeinem Aufhänger für die Forbes-Story gesucht.« Wie geht es Ihnen damit? Hatte ihn Cummins nicht genau das gefragt, damals vor der Polizeiwache? Was sagt Ihre Familie dazu, dass Sie mit diesem Fall zu tun haben?
Der Aufzug kam. Cummins strahlte.
»Nun«, sagte er, »ich muss wieder. War schön, Sie zu sehen, Leo. Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben.« Er schien zu überlegen, ob er die Hand ausstrecken sollte, entschied sich aber dagegen. »Und wirklich alles, alles Gute mit … äh … mit allem.« Schnell trat er in die leere Kabine und drückte mehrmals auf eine der Zahlen.
»Tim. Bitte! Ich brauche bloß seinen Namen. Seine Adresse. Irgendwas!«
Cummins winkte ihm träge zu. »Machen Sie’s gut.« Die Aufzugstüren begannen sich zu schließen.
Leo drehte sich schnell um. Der Wachmann flüsterte immer noch in seinen Telefonhörer. Leo sah Cummins an, sein fleischiges Grinsen, das gleich hinter metallisch glänzenden Türen verschwinden würde. Und dann nutzte er seine letzte Chance und sprang: zwischen die Türen und in den Aufzug.
Er hatte ihn angelogen. Die Adresse stimmte nicht. Und der Name wahrscheinlich auch nicht. Leo hatte nicht übel Lust zurückzugehen. Nein: Er würde ganz sicher zurückgehen. Jetzt sofort. Wenn es sein musste, würde er die Polizei rufen oder damit drohen, oder …
Unvermittelt blieb er stehen, sah mit zusammengekniffenen Augen auf Cummins’ Gekritzel auf dem Stück Papier. Es sei denn … hier war es. Wirklich? Wie es aussah, hatte er es nach zwanzig Minuten Suchen endlich gefunden. Flat 2, 2 b Plymouth New Road, was schon von vornherein nicht nach einer echten Adresse geklungen hatte – aber hier, an einer Tür, die eher nach einem Noteingang aussah, standen eine 2 und ein windschiefes b. Da die Klingeln nicht beschriftet waren, entschied sich Leo für die mittlere und hielt sie so lange gedrückt, bis in der Gegensprechanlage ein statisches Rauschen erklang.
»Ja? Wer ist da?«
»Mmh, äh …« Leo sah noch einmal auf den Namen, dann überlegte er es sich anders und steckte den Zettel in die Hosentasche. »Äh … Archie? Bist du das?«
»Yo. Wer ist da?«
»Ich bin’s, Tim Cummins. Von der Post «, sagte Leo in seiner tiefsten, vollsten Stimme. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Tim? Was ist los? Kann das nicht warten? Ich bin noch gar nicht richtig wach.«
Leo sah ungläubig auf die Uhr. »Nein! Kann es nicht! Ich meine …« Tiefer. Satter. »Drück einfach mal auf, Kumpel. Es ist wichtig.«
Ein gequältes Stöhnen, ein kratzendes Geräusch, vielleicht der Hörer der Gegensprechanlage, der über eine unrasierte Wange gezogen wurde. Dann eine sich ausdehnende Pause – bis Leo von einem überlauten Summen hereingebeten wurde.
Der Flur hatte keine Fenster und war unbeleuchtet. Ohne etwas zu sehen, stand Leo in einem Gestank wie von Mülltonnen, bis ein Lichtspalt in die Dunkelheit auf dem Treppenabsatz fiel.
»Mach das Licht an«, hörte er eine Stimme. »Am Schalter neben dir.«
Leo streckte die Hand aus, zog sie dann aber zurück und ging stattdessen auf die Treppe zu, die dunkel vor ihm lag.
»An der Wand. Direkt neben dir. Oh Mann. Hier.« Etwas bewegte sich: der Umriss eines Bademantels. Dann leuchtete die Glühbirne im Flur auf, und ihr Licht war ähnlich penetrant wie der Gestank, der in der Luft lag. Leo war erst auf der Hälfte der Treppe.
»Tim? Bist du … Sie! Was machen Sie denn hier?«
Leo ging schneller, er rannte die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal.
Der Fotograf bekam es jetzt offenbar mit der Angst zu tun. Archie wartete nicht, bis Leo irgendetwas erklärte, sondern
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