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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Longdrinkglas umgestoßen, aber der Inhalt ergoss sich bloß auf einen schon vorhandenen Fleck.
    »Er funktioniert nicht.« Leo kniete jetzt und drückte auf den Einschaltknopf des Computers, lang, kurz, dann mehrmals hintereinander. Er sah Archie an, der die Augen geschlossen hatte.
    »Der Akku ist im Arsch«, sagte der Fotograf. »Sie müssen den Stecker reinstecken. Aber jetzt mal im Ernst.« Archie hatte Bierflaschen klimpern gehört und hob den Kopf. »Sie machen hier voll die Sauerei!«
    Leo reckte sich nach der Steckdose und stieß dabei eine weitere Flasche um, aber er war taub für Archies Proteste.
    »Wie ist das Passwort?«, fragte Leo, als die Eingabeaufforderung erschien.
    »Jimi!«, sagte Archie. »J, i, m, i, alles klein.«
    Leo tippte mit zwei Fingern. »Und der Ordner? In welchem Ordner? Mann, Archie, hier sind ja Hunderte von …«
    »Das Datum! Die sind nach Datum sortiert. Sie tun meinen Kopfschmerzen echt nicht gut. Vielleicht sollte ich die Bullen rufen oder so.«
    Archie brummelte weiter vor sich hin, aber Leo hörte nicht mehr zu. Er klickte sich durch die Festplatte des Fotografen, die wesentlich besser geordnet war als seine Wohnung. Auf Knien vor dem Bildschirm fingerte er ungeschickt auf dem Touchpad herum und fand schließlich ein Verzeichnis, das nach Monaten sortiert war, dann den Februar, die Woche und schließlich den Tag des Ausflugs nach Dawlish. Er klickte erneut, zweimal hintereinander, und der Bildschirm füllte sich mit Miniaturansichten seiner Tochter. Mit ihrer Eiswaffel an der Grünfläche. In der Eisdiele, als sie sich die Sorte aussuchte. Davor auf dem Gehweg. Wie sie weiter die Straße hinauf mit Meg aus dem Modegeschäft kam. Wie sie im Zug am Fenster saß und mit großen Augen hinaus auf das Meer sah.
    Leo zog den Laptop auf seine Schenkel und beugte sich dicht zum Bildschirm. Seine Tochter. Bilder über Bilder von seiner Tochter, aber auf keinem lächelte sie, fiel Leo auf. Er strich Ellie mit der Fingerspitze über die Wange, doch er spürte nur den kalten Computerbildschirm.
    »Sie waren also im Zug«, sagte Leo. »Sie haben schon Fotos gemacht, bevor wir überhaupt angekommen sind?«
    Archie lag mit angezogenen Beinen auf dem Boden, die Augen wieder geschlossen und die Nase in den Teppich gedrückt. »Ich bin Ihnen gefolgt«, nuschelte er. »Und Sie sind mit dem Zug gefahren. Ja klar, Mann.«
    Leo scrollte sich weiter durch die Miniaturansichten und konzentrierte sich jetzt auf die Aufnahmen in der Nähe der Grünfläche.
    »Wie kann man die vergrößern?«
    Archie antwortete nicht, aber Leo hatte es schon selbst herausgefunden. Er klickte zweimal auf ein Bild, sah es sich genau an, schloss es wieder. Dann noch eins, noch eins und noch eins. Nichts, niemand. Er zoomte das Bild heran, schloss es wieder. Dann öffnete er das nächste, zoomte es heran, schloss es. Ein Bart. Irgendjemand mit Bart. Irgendjemand, der auch nur entfernt so aussah wie der Mann, den Megan damals am Fenster …
    Ein Gesicht. Fast vollständig bedeckt von einem hochgeschlagenen Kragen und einer tief in die Stirn gezogenen Mütze. Leo vergrößerte das Bild, starrte darauf. Und er meinte förmlich die Stimme zu hören.
    Nicht gerade Strandwetter, stimmt’s, Leo?

26
    D as jetzt war schwerer. Zuvor hatte es sich wenigstens so angefühlt, als hätten sie das Schlimmste bereits hinter sich. Die Sauerstoffzufuhr war gekappt worden, und nach der anfänglichen Panik fügten sie sich in ihr Schicksal, langsam zu ersticken – zwar nicht ohne Schmerz, aber betäubt. Das Warten jetzt fühlte sich an, als hätten sie die Anweisung bekommen, einmal tief Luft zu holen und sie dann so lange anzuhalten, bis die Sauerstoffzufuhr repariert war. Sie hatten keine Ahnung, wie lange es dauern würde oder ob es überhaupt klappen würde. Sicher wussten sie nur, dass das ihr allerletzter Atemzug war.
    Leo versuchte zum ersten Mal seit einiger Zeit, sich zu setzen. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.
    »Leo.«
    Megan stand neben dem Spülbecken, die Arme um die Taille geschlungen und den Rücken zum Raum gewandt. Vor ihr stand eine Milchtüte und eine halb fertige Tasse Tee. Entweder hatte sie vergessen, was sie gerade tun wollte, oder sie zog das Ritual absichtlich in die Länge.
    »Leo«, wiederholte sie. »Bitte.«
    Leo sah sie kurz an, dann legte er die Hände flach auf den Tisch und betrachtete seine Finger.
    Was, wenn er fliehen würde? Er musste doch gewusst haben, dass sie ihm auf die

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