Das Kind der Stürme
ist. Dieser Zauber ist etwas, das nur im schlimmsten Notfall angewandt werden sollte.«
Inzwischen war es nicht mehr möglich, ein paar Stunden für mich zu haben. Ich bekam den ganzen Sommer lang kaum die Sonne zu sehen, denn Vater und ich hatten dafür gesorgt, dass unsere Vorräte an Brot und Fisch und Gemüse von einem der Mädchen aus dem Fischerdorf zur Honigwabe gebracht wurden. In einer der tieferen Schluchten gab es eine Quelle, und es war Vater selbst, der mit dem Eimer loszog, um Wasser zu holen. Ich blieb drinnen und arbeitete. Ich erzog mich dazu, dass es mir nichts ausmachte. Zuerst hatte es sehr wehgetan zu wissen, dass Darragh irgendwo da oben war und auf mich warten würde. Später, als er aufgegeben hatte zu warten, schmerzte das noch mehr. Ich floh für kurze Zeit auf ein hoch gelegenes Sims oberhalb des Wassers, einen geheimen Ort, der nur von innerhalb der Honigwabe aus zu erreichen war. Von diesem Aussichtspunkt aus war der gesamte Bogen der Bucht zu sehen, mit seinen Klippen und den gewaltigen Brechern auf unserer Seite bis zum westlichen Ende, wo ein Felsvorsprung die Fischerhütten und das bunte, unordentliche Lager des fahrenden Volks schützte. Man konnte sehen, wie die Jungen und Mädchen am Strand herumliefen, und ihr Lachen wurde auf dem Atem des Westwinds bis zu mir getragen, vermischt mit den Stimmen der Seevögel. Darragh war auch da unten, mitten unter ihnen. Er war im vergangenen Winter gewachsen. Sein dunkles Haar wurde ihm vom Wind aus dem Gesicht geweht, und sein Grinsen war so schief wie eh und je. Fast immer befand er sich in Gesellschaft eines Mädchens, manchmal waren es auch zwei oder drei. Eine fiel mir besonders auf, ein kleines, zierliches Mädchen mit sonnengebräunter Haut und einem langen Zopf. Wohin Darragh auch ging, sie war nicht weit entfernt, mit blitzenden Zähnen und der Hand auf der Hüfte. Ohne irgendeinen Grund hasste ich sie.
Die Jungen sprangen oft von den Felsen unterhalb der Honigwabe ins Meer, ohne zu wissen, dass ich auf dem Sims stand und sie beobachtete. Sie waren in einem Alter, in dem Jungen sich für unbesiegbar halten und jeder von ihnen ein Held ist, der alle Ungeheuer töten kann, die seinen Weg kreuzen. Das Sims, das sie sich ausgesucht hatten, war schmal und rutschig, das Meer darunter dunkel, kalt und gefährlich. Der Sprung musste genau berechnet werden, damit der Junge sich nicht der Wucht einer Welle aussetzte, die ihn gegen die zerklüfteten Felsen am Fuß der Honigwabe schmettern würde. Wieder und wieder kletterten sie zum Sims, drei oder vier von ihnen, warteten auf den richtigen Augenblick, mit bloßen Füßen auf dem Stein, die Körper nussbraun in der Sonne, während die Mädchen und die kleineren Kinder am Strand standen und schweigend und erwartungsvoll zusahen. Dann sprang einer, immer plötzlich und überraschend, ganz gleich, wie oft sie es wiederholten, in das gefährliche Wasser darunter.
Ich beobachtete sie in diesem Sommer zwei- oder dreimal. Als ich das letzte Mal zusah, entdeckte ich, wie Darragh von dem Sims stieg und höher hinaufkletterte, sich so geschickt wie eine Krabbe die Steinwand hinaufbewegte, bis zu einer Stelle, wo er nur noch einen winzigen Halt hatte, hoch über dem Sims, auf dem die anderen standen. Entsetzt hielt ich den Atem an. Er hatte doch nicht vor … sicher hatte er nicht vor …? Ich biss mir auf die Unterlippe und schmeckte salziges Blut; ich ballte die Fäuste so fest, dass mir die Nägel in die Handflächen schnitten. Dieser Narr! Wieso versuchte er so etwas? Wie konnte er nur?
Er verharrte einen Augenblick, und seine Zuschauer erstarrten ebenfalls, denn sie waren zweifellos von dem gleichen faszinierten Entsetzen erfüllt wie ich. Tief, tief drunten krachten die Brecher an die Felsen, und weit droben schrien die Möwen wie zur Warnung. Darragh hob die Arme nicht, wie es die anderen vor ihrem Sprung taten. Er beugte sich einfach vor und schoss mit dem Kopf voran nach unten, die Hände an den Seiten, tiefer und tiefer, bis er ins Wasser eintauchte wie ein Tölpel beim Fischfang; und ich sah, wie eine große Welle über die Stelle spülte, an der er verschwunden war, dann kam noch eine und noch eine, während mein Herz vor Angst laut schlug, und endlich tauchte viel näher am Strand ein glatter, dunkler Kopf aus dem Wasser auf und schwamm aufs Ufer zu, und die Jungen auf dem Sims und die Mädchen auf dem Sand jubelten, und als Darragh triefend und lachend aus dem Wasser kam, war auch sie
Weitere Kostenlose Bücher