Das Kind der Stürme
ist oder ein Bild? Woher soll ich wissen, dass die Art, wie ich dich bisher gesehen habe, die wahre ist? Du könntest ein hässlicher, verhutzelter alter Mann sein, der sich durch Zauber verändert hat.«
Vater nickte ernst. »Das kannst du nicht wissen.«
»Aber –«
»Wenn es nötig wäre, könnte einer, der unser Handwerk gut beherrscht, eine derartige Täuschung über Jahre aufrechterhalten. Einem solchen Menschen wäre es möglich, alle hinters Licht zu führen. Oder zumindest beinahe alle. Wie ich schon sagte, es ist ein machtvolles Werkzeug.«
»Beinahe alle?«
Er schwieg einen Augenblick, dann nickte er. »Es wird dir nicht gelingen, einen anderen, der unser Handwerk ebenfalls praktiziert, mit dieser Magie zu blenden. Es gibt drei Arten von Menschen, die immer dein wahres Ich hinter dem Zauber erkennen werden: Zauberer, Seher und Unschuldige. Du siehst müde aus, Fainne. Vielleicht solltest du dich jetzt ausruhen und morgen von neuem beginnen.«
»Es geht mir gut, Vater«, sagte ich, denn ich wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen. »Ich kann wirklich noch weitermachen. Ich bin stärker, als ich aussehe.«
Vater lächelte – ein seltener Anblick. Es bewirkte eine Veränderung, die tiefer ging als alles, was der Zauber erreichen konnte; es war, als stünde plötzlich ein vollkommen anderer Mann vor mir, der Mann, der er hätte sein können, wenn das Schicksal ihn freundlicher behandelt hätte. »Manchmal vergesse ich, wie jung du bist, Tochter«, sagte er sanft. »Ich bin ein strenger Handwerksmeister, nicht wahr?«
»Nein, Vater«, sagte ich. Meine Augen brannten seltsam, wie von Tränen. »Ich bin stark genug.«
»O ja«, erwiderte er, nun wieder ernst. »Das bezweifle ich keinen Augenblick. Dann komm, lass uns weitermachen.«
***
Ich war zwölf Jahre alt, und für kurze Zeit war ich größer als Darragh. In diesem Sommer ließ mein Vater mich nicht oft nach draußen. Wenn er mir ein wenig Zeit gab, damit ich mich ausruhen konnte, schlich ich mich weg von der Honigwabe und den Hügel hinauf, nicht mehr ganz sicher, ob ich das überhaupt durfte, aber ich bat nicht um Erlaubnis, um Vater keine Gelegenheit zu geben, sie zu verweigern. Darragh wartete schon auf mich und übte Dudelsackspielen, aber Dan hatte ihn gut unterrichtet, und es war mehr Freude als Pflicht für ihn, noch besser zu werden. Wir erforschten keine Höhlen mehr, suchten keine Muscheln mehr am Strand und entzündeten keine kleinen Feuer mehr. Die meiste Zeit saßen wir im Schatten der Stehenden Steine in einer Senke nahe dem Rand der Klippe und unterhielten uns, und dann ging ich wieder nach Hause, und der angenehme Klang des Dudelsacks wand sich hinter mir durch die Luft. Ich sagte, wir unterhielten uns, aber meistens war es so, dass Darragh redete und ich zuhörte, zufrieden damit, still neben ihm zu sitzen. Und worüber hätte ich auch schon sprechen können? Die Dinge, mit denen ich mich beschäftigte, waren geheim. Und Darraghs Welt wurde mir immer fremder, so etwas wie ein aufregender Traum, der niemals Wahrheit werden würde.
»Warum bringt er dich nicht zurück nach Sevenwaters?«, fragte Darragh eines Tages ein wenig unvorsichtig. »Wir sind ein- oder zweimal dort gewesen. Eine Tante von meinem Vater wohnt immer noch dort. Du hast da viele Verwandte: Onkel, Tanten, Unmengen Cousinen. Sie werden dich mit offenen Armen willkommen heißen, daran zweifle ich nicht.«
»Warum sollte er das tun?« Ich starrte ihn wütend an, denn ich mochte es nicht, wenn jemand Vater kritisierte, wie indirekt das auch immer geschehen mochte.
»Weil …« Darragh schien nach Worten zu suchen. »Weil … nun, so ist es nun mal mit Familien. Man wächst zusammen auf, tut Dinge zusammen, man lernt voneinander und passt aufeinander auf, und … und …«
»Ich habe meinen Vater. Er hat mich. Wir brauchen niemanden sonst.«
»Das ist doch kein Leben«, murmelte Darragh. »Es ist kein Leben für ein Mädchen.«
»Ich bin kein Mädchen. Ich bin die Tochter eines Zauberers«, entgegnete ich und zog die Brauen hoch. »Ich brauche nicht nach Sevenwaters zu gehen. Mein Zuhause ist hier.«
»Jetzt machst du es schon wieder«, sagte Darragh einen Augenblick später.
»Was?«
»Was du immer tust, wenn du zornig bist. Deine Augen fangen an zu glühen, und dann zucken kleine Lichtblitze durch dein Haar wie winzige Flammen. Erzähl mir nicht, dass du das nicht weißt.«
»Na gut«, sagte ich und dachte, ich sollte lieber lernen, mich besser zu
Weitere Kostenlose Bücher