Das Kind der Stürme
Herzen.
Ich versuchte, ein Buch über Kräuterkunde zu kopieren. Es war in Latein geschrieben, und ich übersetzte es beim Kopieren gleichzeitig, was eine gewisse Konzentration erforderte.
Coll unterbrach mich immer wieder. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie er sich mit Eilis zu allerhand Unfug zusammentat. Am Ende legte ich die Feder hin und ging zu ihm ans Fenster.
»Wenn das Wetter klarer wird«, sagte ich optimistisch und starrte in das dräuende Grau des Schneesturms hinaus, »kannst du mir vielleicht den Rest der Insel zeigen. Ich wette, es gibt Höhlen dort und Strände, zu denen die Selkies kommen. Gehst du oft zum anderen Ende der Insel?« Draußen war die ganze Landschaft von peitschendem Regen verschleiert.
»Manchmal«, sagte er vorsichtig.
»Nur manchmal? Ist es zu gefährlich?« Die Klippen waren dort höher und steiler, so viel konnte man auch von hier aus erkennen. Die Wellen schlugen in einer Explosion von Weiß an die Felsen am Sockel. Dennoch, es sah nicht gefährlicher aus als die Honigwabe.
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Coll sofort erbost. Er war Onkel Sean wirklich sehr ähnlich: das gleich lange, schmale Gesicht, die dunklen Brauen, das schwarze, lockige Haar. Ich sah ihn ernst an. Noch einer wie Sibeal? Sicherlich nicht. Dieser hier war – nun, um ehrlich zu sein, er war zu sehr Junge. Ich erinnerte mich an etwas, das meine Großmutter einmal darüber gesagt hatte, welch begabte Kinder wohl zur Welt gekommen wären, wenn mein Vater sich für Liadan an Stelle ihrer Schwester entschieden hätte. Wenn Liadan eine Tochter gehabt hätte, dachte ich, dann hätte ich sie sicher schnell lieb gewonnen.
»Wohin gehst du dann?«
»Es gibt eine kleine Bucht im Westen. Es gibt dort eine Klippe mit Vögeln. Höhlen. Tunnel. Manchmal kommen die Selkies. Es ist schön da.« Er verzog das Gesicht. »Aber wahrscheinlich schaffst du es nicht. Du müsstest gut klettern können.«
»Du wärst überrascht«, sagte ich. »Wo ich aufgewachsen bin, musste man jedes Mal über solche Klippen klettern, wenn man frisches Wasser brauchte. Ich bin so geschickt wie eine Ziege.«
Coll schien nicht überzeugt. »Aber du bist ein Mädchen.«
»Hm. Na gut. Mein bester Freund zu Hause war ein Junge, und alles, was er konnte, konnte ich auch.« Das war eine so gewaltige Lüge, dass ich mich verpflichtet fühlte, mich zu verbessern. »Bis aufs Schwimmen, die Musik und alles, was mit Pferden zusammenhing.«
»Und konnte er auch alles tun, was du kannst?«
Ich wagte ein Lächeln. »Nicht unbedingt«, sagte ich.
Danach wurden Coll und ich Freunde, und zusammen zählten wir die Tage, bis die Winterstürme nachlassen würden und der Himmel sich wieder zu den Perlenfarben von Imbolc öffnete. Wir kamen zu einer Übereinkunft. Er würde einige Zeit schreiben üben, während ich ebenfalls mit Tinte und Feder beschäftigt war. Dann verbesserte ich seine Arbeit. Dann sponnen wir abwechselnd eine Geschichte weiter, die wir über einen Jungen erfunden hatten, der in einem kleinen Boot zu seltsamen Ländern segelte und allerhand Abenteuer erlebte. Coll war mit der unschuldigen Selbstsicherheit eines Siebenjährigen vollkommen überzeugt, dass er in ein paar Jahren das Gleiche tun würde. Nicht nur die Reise an sich, sondern auch die Entdeckung von Gewürzinseln und das Töten von Seeungeheuern, und am Ende würde er vielleicht sogar eine Prinzessin heiraten, aber dieser Teil würde erst geschehen, wenn er wirklich alt war, mindestens neunundzwanzig, weil er bis dahin noch zu viel Spaß mit den anderen Abenteuern hatte.
Die Zeit verging. Das Amulett blieb kühl, und meine Angst, dass Großmutter sich unerwartet zeigen würde – vielleicht, um mich zu tadeln, weil ich Johnny von ihrem Bann befreit hatte –, ließ ein wenig nach. Langsam begann ich mich zu fragen, ob dieser Ort vielleicht vor ihr sicher sein könnte. Vielleicht hatte sie deshalb nicht gewollt, dass ich hierher kam. Sie hatte etwas über Präsenzen gesagt. Aber es hatte hier keine Anzeichen von Wesen aus der Anderwelt gegeben; weder die großen noch die kleineren hatten sich gezeigt, seit ich Sevenwaters verlassen hatte. Es gab einfach nur ein starkes Kontingent sehr fähiger Menschen und recht viele gefährlich aussehende Waffen, den Wind und das Meer. Es gab keine Pferde auf der Insel; die hielten sie in der Siedlung an Land. Und es gab keine Hunde, nicht einmal, um die Schafe und Ziegen zu hüten. Allerdings lebte hier eine Katze,
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