Das Kind der Stürme
für den es keine Zeugen gab … du hast Recht, das könnte viele Gründe haben. Einer davon wäre zweifellos Selbstmord. Oder ein Unfall. Oder Mord.«
»Mord! Wie sollte das möglich sein? Außer uns dreien war niemand da, und ich war nur ein Kind. Du willst doch nicht behaupten –«
»Nein, das will ich nicht. Deine Mutter war Ciaráns größter Schatz. Dennoch, du solltest von meinen Zweifeln wissen. Ich glaube nicht, dass sie ihn je freiwillig verlassen hätte – oder dich.«
Ich saß schweigend da und starrte aufs Meer hinaus, während mein Kopf sich mit den ungeweinten Tränen uralter Trauer füllte.
»Es gab einmal eine Zeit«, sagte der Hauptmann leise, »als ich geschworen habe, nie diesen Weg zu gehen, den Weg von Familie und Gemeinschaft, denn er birgt Gefahren ganz eigener Art. Die Fesseln der Liebe sind sehr stark. Sie bringen Schmerz, der über jede körperliche Qual hinausgeht, und Probleme, die oft nur durch Trauer und Kummer zu lösen sind.«
»Und dennoch hast du diesen Weg eingeschlagen.«
Er nickte. »Und ich bedaure es nicht. Aber im Augenblick ist es notwendig, sich nicht von Angst lähmen zu lassen. Meine Söhne sind beeindruckt von dir, Fainne. Sie achten dich.«
Ich antwortete nicht.
»Ich verlasse mich auf Johnnys Meinung. Er glaubt, du solltest hier bei uns sein.«
»Aber?«
»Ich kann Liadans schlechtes Vorgefühl nicht abtun. Ihre Visionen haben sie beunruhigt, aber sie will nicht darüber sprechen. Ich verstehe das, denn der Blick zeigt einem nicht immer die Wahrheit, und auf jede dieser Botschaften zu reagieren, würde einen in einem Meer der Angst schiffbrüchig umhertreiben lassen. Aber was sie sieht, bereitet ihr schlaflose Nächte. Es fällt mir schwer zu glauben, dass sie sich vor dir fürchtet, aber so ist es tatsächlich. Also möchte ich trotz meiner eigenen Ansichten eins ganz klar machen: Jeder, der versucht, meiner Frau oder meinen Söhnen Schaden zuzufügen, wird sich vor mir dafür verantworten müssen.«
»Liadans Angst ist unbegründet.« Noch während dieser Worte spürte ich das Gewicht des Amuletts schwer um meinen Hals.
»Warum sagst du ihr das dann nicht?«
»Ich denke nicht, dass sie mir glauben würde«, erwiderte ich leise.
***
Es war nicht mehr lange bis zu Imbolc, jenem Feiertag, der den Beginn des Frühlings kennzeichnet, und ich war lange genug auf Inis Eala gewesen, um die Namen der Bewohner zu lernen und mir ein wenig ihr Vertrauen zu erwerben. Ich hatte auch entdeckt, dass Johnny keine leeren Drohungen machte. Einer der jungen Männer, denen das Leben auf der Insel noch neu war, hatte den Fehler gemacht, ein Mädchen uneingeladen des Nachts zu besuchen. Ich wusste nicht, was im Einzelnen vorgefallen war, aber ich sah, wie er am nächsten Tag die Insel unter schwerer Bewachung verließ, sein Gesicht aschgrau, der Blick voller Qual darüber, dass ein so dummer Fehler ihn die Gelegenheit gekostet hatte, Teil dieser Truppe zu werden. Es war die einzige Möglichkeit, sagte Johnny. Und es bestand keine Gefahr, dass ein solcher Mann verraten könnte, was er gesehen hatte. Es gehörte zur Ausbildung, dass die Männer erfuhren, welches Schicksal einen erwartete, wenn man dumm genug war, Geheimnisse zu verraten. Der Bemalte Mann hatte einen langen Arm.
Danach waren die jungen Männer einen oder zwei Tage sehr still. Der dunkelhaarige, gut aussehende Corentin, der mir hin und wieder ein Bier gebracht oder mir vom Leben in Armorica erzählt hatte, ging mir nun aus dem Weg. Was den stets freundlichen Gareth anging, einen von Johnnys engsten Freunden, so hielt er sich ohnehin stets an die Regeln. Er warf mir höchstens hin und wieder einmal einen schüchternen Blick zu. Nun jedoch war selbst Gareth ernst. Alle wussten, dass solche Dinge warten mussten. Sam und Clem hatten Pläne für den Herbst; einer würde Brenna heiraten, der andere Annie, die junge Köchin. Für diese Menschen war das Leben vielleicht manchmal schwer, aber zumindest war es klar und ehrlich.
Johnny, der sich des Unbehagens im Lager bewusst war, schlug vor, dass sie mit zum Festland kommen sollten, um dort weitere Vorräte abzuholen. Wir konnten zwar von Fisch und Lammfleisch und Kohl, Möhren und Lauch aus dem Garten leben, aber auf der Insel wuchs kein Getreide, und wir hatten auch keine Rinder, also war es manchmal notwendig, Weizen und Gerste, Käse und Butter vom Festland zu holen. Und selbstverständlich ging es auch noch um andere Materialien. Diesmal sollte Brenna aufs
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