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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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bemerkte, dass sich Galadan nur mit äußerster Anstrengung auf seinen Füßen hielt, als er sah, dass sein Vater gekommen war. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren.
    Als absoluter Herr des Augenblickes sprach Paul mit der Stimme des Gottes: »Ich kann dir das Ende, nach dem du verlangst, gewähren, und ich werde es tun, wenn du es noch mal von mir forderst. Aber hör mir zuerst zu, Herr von den Andain.«
    Er hielt einen Augenblick lang inne und fuhr dann nicht ohne Freundlichkeit fort: »Seit tausend Jahren ist Lisen tot, aber erst heute, als ihr Diadem bei Maugrims Untergang aufblitzte, konnte ihr Geist Rühe finden. Auch Amairgens Seele ist jetzt davon erlöst worden, auf dem Meer herumwandern zu müssen. Es sind zwei Seiten des Dreiecks, Galadan. Sie sind befreit, endlich wirklich befreit. Du aber lebst noch. Und trotz allem, was du in Bitterkeit und aus Stolz tatest, hast du dennoch den Klang des Lichtes in Oweins Horn gehört. Willst du nicht deinem Schmerz entsagen, Herr der Andain? Lass ihn los. Der heutige Tag bezeichnet das echte Ende dieser traurigen Geschichte. Willst du sie nicht zu Ende gehen lassen? Du hast das Horn gehört … es gibt für dich einen Weg zurück, zurück nach jenseits der Nacht. Dein Vater ist gekommen, um dich zu führen. Willst du nicht zulassen, dass er dich von hier wegschafft, dich heilt, und zurückbringt?«
    In der Stille klangen diese klaren Worte wie die Tropfen des lebensspendenden Regens, den Paul erkauft hatte, als er am Sommerbaum stand. Eines nach dem anderen, so sanft wie der Regen, tropften sie glänzend herab.
    Dann schwieg er, nachdem er auf die Rache verzichtet hatte, die er vor so langer Zeit für sich gefordert und ein zweites Mal in Cernans Gegenwart am Sommerbaum in der Mittsommernacht beansprucht hatte.
    Die Sonne stand nun sehr tief. Wie ein Gewicht in einer Waagschale hing sie sehr weit im Westen. In Galadans Gesicht bewegte sich etwas, es zuckte wie von einer alten unaussprechlichen und niemals ausgesprochenen Qual. Unwillkürlich riss er seine Arme nach oben und schrie: »Wenn sie mich doch nur geliebt hätte! Ich hätte so hell strahlen können!«
    Dann bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und weinte das erste und einzige Mal in tausend Jahren des Verlustes. Er weinte lange. Paul bewegte sich weder, noch sprach er. Aber dann begann Ruana plötzlich neben Kim ein langsames, trauriges Klagelied tief in seiner Brust zu intonieren. Einen Augenblick später hörte Kim erschaudernd, wie auch Ra-Tenniel, der Herr der Lios Alfar, seine herrliche Stimme in einer klaren Harmonie erhob, sie klang so fein wie ein Glockenläuten im Abendwind.
    Und so ließen die beiden an diesem Ort Musik ertönen. Sie sangen für Lisen und Amairgen, für Finn und Darien, für Diarmuid dan Ailell, für all die Toten, die hier versammelt waren, und all die Toten, die hier und anderswo gestorben waren … und für die ersten Tränen des Herrn der Andain, der in seinem Stolz und seinem bitteren Schmerz so lange der Finsternis gedient hatte.
    Schließlich blickte Galadan auf. Das Singen ging zu Ende. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, sie waren so dunkel wie die von Gereint. Zum letzten Mal sah er Paul ins Gesicht und fragte: »Würdest du das wirklich tun? Würdest du mich von hier weggehen lassen?«
    »Ja«, antwortete Paul, und niemand, der hier stand, stellte sein Recht, dies zu tun, in Frage.
    »Warum?«
    »Weil du das Horn gehört hast.« Paul zögerte und fuhr dann fort: »Und noch aus einem anderen Grund. Als du kamst, um mich auf dem Sommerbaum zu töten, hast du ganz am Anfang etwas gesagt. Erinnerst du dich?«
    Galadan nickte langsam.
    »Du meintest, ich sei fast einer von euch«, fügte Paul ruhig und leidenschaftslos hinzu. »Du hattest unrecht, Wolflord. Die Wahrheit ist, dass du fast einer von uns warst, aber du wusstest es damals nicht. Du hattest es zu weit aus deinem Bewusstsein verdrängt. Jetzt weißt du es, jetzt hast du dich erinnert. Wir haben heute mehr als genug morden miterlebt. Geh nach Hause, unruhiger Geist, und finde Heilung. Komm dann wieder zu uns zurück mit dem Segen dessen, was du immer hättest sein sollen.«
    Galadans Hände ruhten wieder an seiner Seite. Er hörte zu und nahm jedes Wort in sich auf. Dann nickte er einmal, sehr anmutig verbeugte er sich vor Paul, wie auch sein Vater es einst getan hatte, und langsam trat er aus dem Ring der Menschen hinaus.
    Auf beiden Seiten machten sie ihm Platz. Kim beobachtete, wie er den Abhang

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