Das Kind des Schattens
ließ Shahar mit seinem Sohn allein zurück und folgte Pwyll, in der Hand trug sie ihr silbernes Diadem. Als sie zur Ebene hinabging, hörte sie über ihrem Kopf die schnellen, unsichtbaren Schwingen seiner Raben, Gedanke und Erinnerung. Sie wusste nicht, was er tun wollte, aber in diesem Augenblick erkannte sie etwas anderes, eine Wahrheit in den Tiefen ihres Herzens. Und dann sah sie, wie sich der Kreis der Menschen öffnete, so dass Pwyll hineingehen und vor den Wolflord von den Andain treten konnte.
Kim stand zwischen Loren und Ruana, sie beobachtete, wie Paul in den Kreis hineinging, und plötzlich hatte sie ein merkwürdiges Bild vor ihrem geistigen Auge, das ebenso schnell verschwand, wie es gekommen war … sie dachte an Kevin Laine, der in der Versammlungshalle so sorglos gelacht hatte, bevor irgend etwas geschehen war.
Es war sehr still in Andarien. Im roten Licht der untergehenden Sonne waren die Gesichter der dort Versammelten merkwürdig beleuchtet. Aus dem Westen wehte ein sanfter Wind. Rings um sie lagen die Toten. Inmitten der Lebenden trat Paul Schafer Galadan gegenüber und richtete folgende Worte an ihn: »Nun treffen wir uns zum dritten Mal, wie ich es vorhergesagt habe. In meiner eigenen Welt habe ich dir mitgeteilt, dass das dritte Mal die anderen ausgleichen würde.«
Seine Stimme klang ruhig und tief, aber sie war von unglaublicher Autorität erfüllt. Kim sah, dass Paul seine ganze gestandene Kraft einbrachte und sie mit dem vermehrte, was er in Fionavar geworden war. Umso mehr, da nun der Krieg vorüber war. Denn sie hatte recht gehabt: Seine Macht war nicht die Macht des Kampfes. Sie war anders und hatte sich nun in ihm erhoben. Er sagte: »Wolflord, ich kann in jeder Dunkelheit sehen, die du vielleicht erschaffst, und ich kann jede Klinge zerschmettern, die du vielleicht werfen möchtest. Ich glaube, du weißt, dass das wahr ist.«
Galadan stand ruhig vor ihm und hörte ihm aufmerksam zu. Sein narbenbedecktes aristokratisches Haupt hatte er hoch erhoben, der Silberstreifen in seinem schwarzen Haar schimmerte im schwindenden Licht. Zu seinen Füßen lag Oweins Horn wie ein weggeworfenes Spielzeug.
Er entgegnete: »Ich habe kein Messer, das ich noch werfen könnte. Vielleicht wäre das anders, wenn der Hund auf dem Baum dich nicht gerettet hätte, aber jetzt bleibt mir nichts mehr, Zweimalgeborener, das lange Spiel ist vorüber.«
Kim hörte es und versuchte, durch die Müdigkeit von Jahrhunderten, die in seiner Stimme lag, nicht gerührt zu sein.
Galadan wandte sich um und sprach zu Ruana: »Mehr Jahre als ich denken kann, haben die Paraiko von Kath Meigol meine Träume beunruhigt. Wenn ich schlief, fielen die Schatten der Riesen immer über das Bild meiner Sehnsucht, jetzt weiß ich warum. So tief war die Beschwörung, die Connla vor so langer Zeit gewoben hat, dass ihre Kraft die Wilde Jagd noch heute binden konnte.«
Ohne irgendeine sichtbare Ironie verbeugte er sich vor Ruana, der zu ihm hinblickte, ohne zu zwinkern oder irgend etwas zu sagen. Er wartete.
Noch einmal wandte sich Galadan zu Paul, und er wiederholte: »Es ist vorbei, es ist mir nichts geblieben. Wenn du auf eine Auseinandersetzung gehofft hattest, jetzt, da ich in deiner Macht bin, tut es mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Ich werde dankbar sein, welches Ende auch immer du mir bereitest. So wie die Dinge jetzt liegen, hätte es schon viel früher geschehen können. Ich hätte genauso gut auch vom Turm springen können.«
Das ging jetzt wieder gegen sie, dachte Kim. Sie biss sich auf die Lippe. Paul aber erwiderte ruhig und vollkommen kontrolliert: »Es braucht nicht vorüber zu sein, Galadan. Du hast Oweins Horn vernommen. Nichts, was wirklich böse ist, kann das Horn hören. Möchtest du dich nicht von dieser Wahrheit heimführen lassen?«
Ein Murmeln kam auf, das sich aber schnell beruhigte. Galadan war mit einem Mal weiß geworden.
»Ja, ich hörte das Horn«, gab er zu … fast wider seinen Willen. »Ich weiß nicht, warum. Aber wie sollte ich zurückkehren, Zweimalgeborener? Wohin könnte ich gehen?«
Paul sprach nicht. Er hob nur die eine Hand und zeigte nach Südosten.
Dort stand in einiger Entfernung auf dem Bergrücken ein Gott, er war nackt und herrlich. Die Strahlen der untergehenden Sonne lagen schräg über der Ebene, und sein Körper glänzte in diesem Licht rot und bronzefarben, und das verästelte Geweih auf seinem Kopf strahlte und schimmerte.
Es war Cernans Hirschgeweih.
Kim
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