Das Kind des Schattens
nicht. Ihre Augen ließen nicht voneinander ab. Und in diesem silbernen Licht, in diesem Schweigen, ließ sich Arthur vernehmen, und in seiner Stimme lag ein Ton knochentiefer Selbstverdammung: »Zweimalgeborener, wie konnte es sich jemals verändern, ich hatte doch die Kinder erschlagen.«
»Und du hast den vollen Preis gezahlt«, erwiderte Paul ohne Zögern.
Und nun hörten sie mit einem Male Donner in seiner Stimme. »Blick auf, Krieger!« schrie er. »Schau hinauf und sieh, wie der Mond der Göttin auf dich niederscheint. Höre Mörnir durch mich sprechen. Fühle den Boden von Camlann unter deinen Füßen. Blicke um dich! Lausche! Siehst du nicht? Nach so langer Zeit ist es gekommen. Du bist zur Herrlichkeit gerufen, nicht zum Ruhm. Dies ist die Stunde deiner Befreiung!«
In seiner Stimme war Donner, in seinem Gesicht stand das Leuchten des Blitzes. Kim zitterte und schlang die Arme enger um ihren Körper. Der Wind, der um sie wehte, wurde stärker und stärker, noch während Paul sprach, der Donner rollte, und als Kim nach oben blickte, schien es ihr, als trüge der Wind die Sterne und den Sternenstaub an ihren Augen vorbei.
Und dann wandte sich Pwyll Zweimalgeboren, der Herr des Sommerbaumes, von ihnen allen ab, schritt ein wenig nach Westen, stellte sich mit dem Gesicht zum fernen Meer, so dass der helle Mond in seinem Rücken stand, und sie hörten, wie er mit mächtiger Stimme rief:
»Liarnan, Meeresbruder! Dreimal habe ich dich jetzt gerufen, einmal vom Ufer aus, einmal vom Meer aus und einmal in der Bucht des Anor Lisen. Jetzt, in dieser Stunde rufe ich dich von neuem, fernab von deinen Wogen. Im Namen Mörnirs und in der Gegenwart Danas, deren Mond jetzt über uns ist, ersuche ich dich: Schicke deine Flut zu mir. Schicke sie, Liarnan, schicke das Meer, so dass am Ende einer so oft erzählten Geschichte des Kummers schließlich Freude stehen kann. Ich bin verwurzelt in der Kraft des Landes, Bruder, und mein ist die Stimme Gottes. Ich fordere dich auf zu kommen!«
Während Paul sprach, breitete er seine Arme aus, so weit er nur konnte, als wolle er alle Zeiten und alle Welten des Webers in sich vereinigen. Dann schwieg er. Sie warteten. Ein Augenblick verstrich, ein weiterer. Paul bewegte sich nicht, er hielt seine Arme ausgestreckt, während der Wind stark und wild um ihn wirbelte. Hinter ihm schien der Vollmond, vor ihm der Abendstern.
Kim hörte das Geräusch von Wogen.
Und über die dürre Ebene von Andarien begannen die Wasser des Meeres hereinzurauschen. Sie schimmerten silbern im Licht des Mondes. Sie schwollen höher und höher an, aber sanft und kontrolliert. Paul hatte seinen Kopf hoch erhoben, seine Arme waren weit ausgestreckt, es war ein Willkommensgruß, als er das Meer aus der Lindenbucht so weit ins Land hereinzog. Kim zwinkerte, in ihren Augen standen Tränen, und ihre Hände zitterten wieder. In der Abendluft konnte sie den Salzgeruch spüren und sah, wie die Wellen im Mond glitzerten. Weit, weit in der Ferne erblickte sie auf den Wellen eine Gestalt, deren Arme ebenso weit ausgebreitet waren wie die Pauls. Sie wusste, wer dies sein musste. Sie wischte ihre Tränen weg, um ihn klar zu sehen. Er schimmerte im weißen Mondlicht, und es schien ihr, dass alle Farben des Regenbogens auf dem Gewand tanzten, das der Seegott trug.
Auf dem hohen Grat barg Shahar noch immer seinen Sohn in seinem Schoß, aber es hatte den Anschein, als wären die beiden jetzt allein auf einem Vorgebirge, auf einer Insel, die sich aus den Wassern des Meeres erhob.
Eine Insel, wie auch Glastonburytor einst gewesen war, eine Insel, die sich aus den Fluten erhob, welche die Somerset-Ebene bedeckt hatten. Es waren die Wasser, über die einst ein Boot geglitten war, das drei traurige Königinnen und den Körper von Arthur Pendragon nach Avalon trug.
Und noch während sie diesen Gedanken bildete, sah Kim, dass über die Wogen ein Boot auf sie zukam. Es war lang und schön und hatte ein einziges Segel gehisst, das sich mit diesem Wind füllte. Im Heck dieses Fahrzeugs saß an der Ruderpinne eine Gestalt, die sie kannte, eine Gestalt, der sie unter Zwang das Verlangen seines Herzens gewährt hatte.
Die Fluten waren jetzt bis zu ihnen herangekommen. Die Welt mit all ihren Gesetzen hatte sich verändert. Unter einem Vollmond, der niemals über den Himmel hätte ziehen können, lag die steinige Ebene von Andarien bis zu dem Ort unter Wasser, wo sie jetzt standen, östlich des Schlachtfeldes. Und das silbrige Wasser
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