Das Kind
an diese Erinnerung gelangt war. Verstehen Sie, was ich meine?« Borchert lachte kurz auf. »Ich denke, es ist so, wie wenn man einen Zwanziger in einer alten Hose wiederfi ndet, sich aber nicht erinnern kann, das hässliche Ding jemals getragen zu haben.«
»Gutes Beispiel. Sie fi nden das Geld und geben es aus, weil Sie einfach davon ausgehen müssen, dass es Ihnen gehört. Simon fand die Erinnerung an diese schrecklichen Morde in seinem Kopf und war felsenfest davon überzeugt, er selbst wäre dafür verantwortlich. Deshalb bestand er auch den Lügendetektortest.«
»Und woher wusste er von der Zukunft?«
»Losensky schloss seine Beichte mit einer Bitte an Simon.Hier …« Simon hörte das trockene Rascheln von Zeitungs papier.
»Es steht heute in jedem Revolverblatt. Sie haben Losenskys Tagebuch im Krankenhausschrank gefunden und Auszüge abgedruckt.« Müller las vor:
»Also erzählte ich Simon von meinem letzten großen Plan. Ich sagte ihm, dass ich es wieder tun wolle. Am ersten November, um sechs Uhr früh auf der ›Brücke‹. ›Simon‹, sagte ich wörtlich, ›ich werde das Böse erschießen, nachdem er mir das Baby übergeben hat. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich noch auf dem richtigen Pfad voranschreite. Deshalb bitte ich dich um einen letzten Gefallen. Wenn du bald …‹« »… unserem Schöpfer gegenübertrittst, dann sag ihm, ich habe das alles aus reinem Herzen getan.« Simon schlug die Augen auf und ergänzte zur Verblüffung von Müller und Borchert die letzten Sätze von Losenskys Beichte. »Frag ihn, ob ich falsch handele. Und wenn ja, dann soll er mir ein Zeichen senden. Dann werde ich sofort aufhören.« »Du bist ja wach.«
»Ja, schon eine Weile«, gestand Simon. Er räusperte sich und warf dem Chefarzt einen schuldbewussten Blick zu. »Dann stimmt es also?« Borchert beugte sich über ihn. »Ich hab nicht alles verstanden, was ihr gesagt habt. Aber ich kann mich jetzt wieder an die Stimme erinnern. Er klang … irgendwie sehr lieb.«
Der Krankentransporter wurde wieder langsamer. Simon ver suchte zaghaft, sich aufzurichten.
»Also hab ich doch nichts Böses getan?«
»Nein, überhaupt nicht.« Borchert und der Arzt antworteten gleichzeitig.
»Ich hab niemanden getötet?«
»Hast du nicht.«
»Aber warum sind dann Robert und Carina nicht da?«
»Weißt du …« Die langen Finger des Professors legten sich warm auf seine Stirn. »Du hast jetzt drei Tage lang die überwiegende Zeit nur geschlafen.«
»Und in dieser Zeit, na ja … da ist was passiert«, ergänzte Borchert.
»Was denn?« Simon war irritiert. Die beiden Erwachsenen klangen seltsam, als wollten sie etwas vor ihm verbergen. »Hab ich doch was falsch gemacht? Können Sie mich nicht mehr leiden?« Er sah jetzt Borchert an.
»Quatsch. Denk doch nicht so was.«
»Dann verstehe ich es nicht.«
»Kannst du dich denn an gar nichts erinnern?«, wollte Andi wissen. Simon schüttelte nur den Kopf. Er war in den letzten Nächten immer mal wieder aufgewacht. Nur kurz. Und immer war er allein gewesen.
»Nein. Was ist denn los?«
Plötzlich schien die Sonne hinter den Milchglasscheiben unterzugehen, und der veränderte Klang des Dieselmotors erinnerte Simon unangenehm an den Moment, als sie in dem Wagen der hässlichen Frau in die Garage der Villa gefahren waren.
»Wir sind jetzt da«, rief jemand von vorne und stieg aus. »Was ist mit Robert und Carina?«, fragte Simon noch einmal. Die Ladetüren des Transporters wurden aufgerissen. »Nun, ich denke, dass solltest du besser von jemand anderem erfahren«, sagte Professor Müller und griff vorsichtig nach Simons Hand.
2.
D ie schiefen Schwarzweißbilder ohne Ton waren von bil ligster Heimvideoqualität. Dadurch, dass die Autoscheinwerfer die Kamera blendeten, sahen die Aufnahmen zudem wie überbelichtete Ultraschallbilder aus. »Wird’s ein Junge oder ein Mädchen?«, hatte der Staatsanwalt gewitzelt, als sie ihm das Band zum ersten Mal zeigten. Tatsächlich brauchte Brandmann auch bei dieser Vorführung wieder eine Weile, bis seine Augen die beiden Männer vor dem Wagen unterscheiden konnten.
»Hier sehen Sie, wie Losensky die Waffe zieht.« Er räusperte sich und tippte mit der Kante eines Einwegfeuerzeugs auf die entsprechende Stelle der Leinwand.
»Sie stehen im Bild.«
»Oh, tut mir leid.« Brandmann trat aus dem Lichtkegel des Videobeamers. »So. Aufgepasst: Noch scheint der Alte zu zögern. Aber jetzt: Losensky hebt seine Waffe etwas höher. Und dann: Peng!«
Das
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