Das Kind
Wange ab und drückte ihm mit seinen Fingern den Kiefer auseinander. Kurz bevor er ihm die Pistole in den geöffneten Mund rammen wollte, hielt er nochmals inne.
»Zu wem gehörst du? Auf wessen Rechnung arbeitest du?« »Auf Seine.«
»Wer soll das sein? Wer ist dein Boss?«
»Der, der auch Ihrer ist. Gott.«
»Das gibt’s doch gar nicht.« Engler presste ihm den Lauf unter den Kiefer. »Da wurden wir jahrelang von einem bibeltreuen Rentner verarscht.«
Englers Lachen ging in ein bronchitisches Husten über.
»Okay, dann hab ich jetzt eine gute Nachricht für dich«, keuchte er. »Dein Chef, der liebe Gott, hat dich heute zu einer wichtigen Besprechung eingeladen, und ich soll dich zu ihm bringen. Er ist etwas in Eile, also …« »Hände hoch.«
Engler zog die Augenbrauen hoch, hob den Kopf und sah nach links, zu der Ansammlung dreier Fichten, hinter denen die Frau hervorgetreten war.
»Herzlich willkommen auf der Party«, lachte er, als er Carina identifi zierte. »Wurde ja auch langsam Zeit.« Sie ging zwei Schritte auf ihn zu und blieb in einer Entfernung von etwa drei Autolängen vor ihm stehen. »Lassen Sie den Mann in Ruhe und die Pistole fallen!« »Und was, wenn nicht?«
Engler musste trotz der kurzen Entfernung gegen den Wind anschreien, der seit Carinas Ankunft noch eine Spur aggressiver geworden war.
»Dann erschieße ich Sie.«
»Mit diesem Ding da in Ihrer Hand?«
»Ja.«
Engler lachte. »Ist das etwa die Pistole aus der Tasche, die Sie gestern um die Hüfte trugen?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Drücken Sie doch bitte einmal ab.«
»Was soll das?«
Carina, die die Waffe bislang nur mit einer Hand gehalten hatte, legte jetzt auch noch die andere um den Knauf. Es sah fast so aus, als wolle sie beten.
»War nur so eine Bitte«, rief der Kommissar. Der Alte unter ihm atmete schwer. »Sie müssen ja nicht auf mich zielen. Schießen Sie einfach einmal kurz in die Luft.« »Aber wieso?«
Carinas Oberarme begannen leicht zu zittern, als würde die Waffe in ihren Händen von Sekunde zu Sekunde schwerer. »Weil Sie feststellen werden, dass das verdammte Ding nicht mehr geladen ist. Oder glauben Sie wirklich, ich gebe Ihnen eine Waffe zurück, ohne vorher das Magazin zu leeren?« »Wer sagt Ihnen, dass ich es nicht wieder gefüllt habe?« »Ihr entsetzter Blick, Frau Freitag.«
Engler nahm seine Waffe aus Losenskys Gesicht und zielte nun auf Carinas Oberkörper. »Bye, bye«, sagte er. Klick, machte es, als Carina abdrückte. Klick, klick. Der vierte Fehlversuch ging in Englers erkälteter Lache unter. Die nutzlose Pistole glitt ihr aus den Fingern und schlug in den Matsch zu ihren Füßen.
»Schade auch.«
Der Kommissar spannte den Hahn seiner Waffe und rich tete den Laserpointer direkt auf Carinas Stirn. Als der Hall des Schusses über den aufgewühlten Wannsee peitschte, schien der Sturm für einen kurzen Moment seinen wütenden Atem anzuhalten. Dann schlugen die Böen wieder zusammen und verschluckten das todbringende Geräusch.
Der Anfang
Es ist nicht erstaunlicher,
zweimal geboren zu werden, als einmal.
Voltaire
… dafür sprechen schon die Berichte von Menschen, die eine Nahtoderfahrung hatten. Fast alle haben gespürt, wie sich ihre Seele aus ihrem Körper löste, bevor sie wiederbelebt wurden. Und nicht nur das, einige sagen sogar, sie hätten im Sterben schon gewusst, zu welchem neuen Körper ihre Seele wandern würde …
Carina Freitag
1.
D ie Stimmen zischten blechern, als kämen sie aus einem
viel zu laut eingestellten MP3-Kopfhörer. Mit jedem Ruck, der durch das Fahrzeug ging, wurden sie lauter und deutlicher, bis sie schließlich so stark an seiner Wahrnehmung zerrten, dass Simon nicht mehr weiterschlafen konnte. Er öffnete für einen überbelichteten Schnappschuss die Augen. Gerade so lang, um zu erkennen, dass mit ihm noch zwei Männer im hinteren Teil des Krankenwagens saßen. »Kryptomnesie?«, fragte die heisere Stimme, die er sofort erkannte.
Borchert!
»Ja«, antwortete Professor Müller. »Auf dem Gebiet der Reinkarnationsforschung ist natürlich alles umstritten, aber das gilt derzeit als der plausibelste Ansatz, um scheinbar übersinnliche Wiedergeburtserfahrungen logisch und naturwissenschaftlich zu erklären.«
Simon wollte sich aufrichten. Er hatte Durst, und das linke Knie juckte unter seiner dünnen Pyjamahose. Normalerweise war er allein, wenn er aufwachte. Er brauchte die kurze Zeit für sich, um wieder »einen klaren Kopf zu gewinnen«, wie Carina es nannte. Er
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