Das Kind
musste immer an diese Schneekugeln denken, wenn sie das sagte. Die Dinger aus Glas, die man schüttelte und dabei zusah, wie die Styroporfl ocken langsam zu Boden rieselten. Nach dem Aufwachen dachte er manchmal, in seinem Kopf sähe es genau so aus. Die ersten Minuten des Tages wollte er erst einmal abwarten, bis
sich die Bilder, Stimmen und Visionen wieder auf ihren richtigen Platz gelegt hatten. Deshalb beschloss Simon, sich noch eine Weile schlafend zu stellen, während er seine Gedanken sortierte und dabei heimlich den leisen Stimmen der beiden Männer zuhörte.
»Kapier ich das auch ohne Abitur?«, wollte Borchert gerade wissen.
»Ich denke schon. Es ist eigentlich ganz einfach. Bis vor kurzem ging die Wissenschaft davon aus, dass unser Gehirn über einen Filter verfügt. Sie müssen wissen, Ihr Gehirn ist dafür ausgerüstet, in jeder Sekunde Milliarden an Informationen parallel zu verarbeiten. Doch nicht alle davon sind wichtig. Im Moment zum Beispiel wollen Sie mir in erster Linie zuhören, meine Ausführungen verstehen und dabei nicht vom Sitz rutschen, wenn der Krankentransport sich in eine Kurve legt. Gleichzeitig ist es für Sie aber völlig unwichtig, welche Prüfnummer auf diesem Medikamentenkoffer hier steht oder ob ich Schuhe mit oder ohne Schnürsenkel trage.«
»Es sind Slipper.«
»Ja. Ihr Auge hat das schon die ganze Zeit gesehen, doch der Filter in Ihrem Gehirn hat diese irrelevante Information ausgesiebt, bis ich eben die Aufmerksamkeit darauf lenkte. Und das ist auch gut so. Stellen Sie sich mal vor, Sie würden auf einem Waldspaziergang jedes Blatt einzeln am Baum zählen? Bei einem Gespräch im Café könnten Sie plötzlich die Unterhaltungen an den Nachbartischen nicht mehr ausblenden.«
»Ich glaub, ich würde mich einpullern.«
»Sie lachen. Dabei haben Sie recht. Ohne Filter wäre Ihr Gehirn so sehr mit der Verarbeitung einer unvorstellbaren Informationsfl ut beschäftigt, dass Sie wahrscheinlich nicht
mal mehr die einfachsten Körperfunktionen beherrschen würden.«
»Aber Sie sagten doch eben, diese Filtertheorie wäre schon wieder Schnee von gestern?«
Simon spürte, wie ihn eine unsichtbare Kraft am Kopf nach vorne zog. Er lag also in Fahrtrichtung, und der Krankenwagen musste gerade anhalten.
»Nicht direkt«, antwortete Müller. »Es gibt allerdings eine neue, sehr plausible Theorie aus der Savant-Forschung.« »Was soll ’n das sein?«
»Ihnen ist der Begriff Autist vermutlich geläufi ger.« »›Rain Man‹?«
»Ja, zum Beispiel. Lassen Sie mich kurz überlegen, wie ich es einem Laien am leichtesten erklären kann.« Der Junge sah trotz seiner geschlossenen Augen die heruntergezogenen Mundwinkel des nachdenklichen Chefarztes bildhaft vor sich und unterdrückte ein Grinsen. »Gut, also vergessen Sie den Filter und denken Sie stattdessen an ein Ventil.«
»Okay.«
»Dank der fast unbegrenzten Datenspeicherkapazitäten unseres Gehirns spricht vieles dafür, dass wir in einem ersten Schritt zunächst einmal alles abspeichern. Aber nur auf einer unterbewussten Ebene. Ein biochemisches Ventil in unserem Gehirn verhindert eine Überbelastung des Langzeitgedächtnisses und gibt nur die Daten zum Abruf frei, die wir wirklich benötigen.«
»Also, alles wird erst mal in einem Aktenordner abgeheftet, aber wir kriegen den Deckel nur schwer wieder auf?« »So könnte man es auch ausdrücken.«
»Und was hat das alles mit Simons Wiedergeburt zu tun?« »Ganz einfach. Sind Sie schon mal vor dem Fernseher einge schlafen?«
»Andauernd. Letztens bei so einer langweiligen Doku über Hexenverbrennungen.«
»Gut. Sie haben also geschlafen, aber Ihr Gehirn war natürlich aktiv. Es hat alle Informationen aufgesaugt, die aus dem Fernseher kamen.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Eben. Sie haben die gesamte Dokumentation abgespeichert, doch das Ventil verhindert, dass Sie sich aktiv daran erinnern. Unter Hypnose aber könnte ein speziell geschulter Therapeut Ihr Unterbewusstsein stimulieren.« »Und den Deckel öffnen.«
»Richtig.«
Simon hörte ein Klickgeräusch und dann ein leises, ungleichmäßiges Kratzen unweit seines rechten Ohrs. Er vermutete, dass der Chefarzt etwas mit seinem Kugelschreiber aufzeichnete, um Borchert seine Ausführungen auch bildlich zu erläutern.
»Bei den meisten Rückführungen, in denen der Patient in Trance oder Hypnose versetzt wird, geschieht genau das. Die Menschen glauben, mit ihrem Geist in ein früheres Leben zu wandern. In Wahrheit erinnern sie sich nur an
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