Das Kind
Mündungsfeuer blitzte grell und hinterließ einen gelben Explosionsfaden als Echo auf der Leinwand. Dann wurde Stern, wie von einer Abrissbirne getroffen, zurückgeschleudert und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Parkplatz des Strandbads auf, wo er reglos liegenblieb. »Engler hat das selbst gefi lmt. Seine Kamera lag auf der Hutablage des Wagens, in dem er sich versteckt hielt.« Der Kommissar räusperte sich wie nach fast jedem seiner Sätze. Er verkniff sich die Frage nach einer Zigarette und stoppte kurz das Band.
»Es wäre der perfekte Videobeweis gewesen. Ein fehlgeschlagener Kinderhandel. Abschaum, der sich gegenseitig
auslöscht. Engler war ein Videofreak. Wir gehen davon aus, dass er die Kamera einfach weiterlaufen ließ, um das Band später als Snuff-Film verkaufen zu können. Oder für den Hausgebrauch, wer weiß. Natürlich sollten wir die folgenden Aufnahmen nie zu Gesicht bekommen.« 3.
W ohin bringt ihr mich?«
Das Fußteil des Rollstuhls zog einen schwarzen Kratzer über die tapezierte Wand des Treppenhauses. Simon drehte sich auf seinem Sitz zu Borchert herum, der schwitzend von hinten an den Griffen zog. »Du musst zur Reha«, keuchte er.
Auch der Atem des Krankenwagenfahrers, der von unten schob, ging jetzt auf den letzten Metern etwas schneller. »Was denn für eine Reha?«
»Spezialbehandlung. Für besonders schweeeeere …«, Borchert stöhnte bei diesem Wort besonders übertrieben, »… Fälle wie dich.«
»Und wo sind wir hier?«
Sie hatten den letzten Absatz erreicht, und Simon sah zu Professor Müller hinunter, der noch abwartend am Fuße der Kellertreppe stand.
»In einer Privatklinik«, lächelte der Chefarzt und kam nun ebenfalls nach oben.
»Was soll ’n das für ’ne Klinik sein? Ohne Fahrstuhl?« »Schau sie dir doch am besten selbst mal an. Huiiiii …«
Simon musste kichern. Auf einmal fühlte er sich wie beim Autoskooter auf dem Rummel. Er wurde erst nach vorne, dann zurückgerissen und rotierte jetzt wie ein Brummkreisel um die eigene Achse.
»Aufhören, bitte«, lachte er, doch Borchert drehte Simon noch zweimal im Kreis herum, bevor er ihn in Windeseile aus dem Treppenhaus hinaus in einen kahlen Gang schob. »Mir wird schlecht«, stöhnte Simon. Sein Rollstuhl war endlich zum Stillstand gekommen. Im Gegensatz zu den schwankenden Bildern vor seinen Augen. Die Gesichter von Borchert, Müller und dem Fahrer pendelten langsam aus. »Was… was ist das? «
Simon griff sich zum Test an seine Perücke. Wenn er schlief, lag sie neben ihm auf seinem Nachttisch. Doch jetzt spürte er sie ganz deutlich unter seinen kribbelnden Fingern, und deshalb konnte das alles kein Traum sein, obwohl es doch ganz danach aussah.
»Na, was sagst du?«
Simons stummes Staunen war Antwort genug. Mit verlangsamten Bewegungen, so als hätte er gerade seine Medikamente bekommen, faltete er unbeholfen die weiße Krankenhausdecke zusammen, die auf seinem Schoß lag, und legte sie auf die Armlehne.
Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er das tat. Vermutlich nur, damit seine zitternden Hände irgendwie beschäftigt waren, bevor die Flut der wunderbaren Eindrücke hier ihn völlig lähmte. Dann musste er lächeln, und mit der Veränderung seiner Gesichtszüge fi el auch der bleierne Panzer von ihm ab.
Simon drehte sich herum. Zögerte. Sah fragend in die Gesichter seiner Begleiter, die ihm aufmunternd zulächelten. Am meisten grinste Borchert, in dessen verschwitztem Ge sicht nun sogar die Augen verschwammen. Also wagte er es. Er stand auf, ging zwei Schritte in den unglaublich großen Raum hinein. Obwohl es noch so viel anderes zu entdecken gab, konnte er den Blick nicht von den Palmen am Eingang abwenden. Er schloss die Augen und hatte Angst, die Fata Morgana wäre verschwunden, sobald er sie wieder öffnete. Doch eine Sekunde später war alles noch vorhanden: die rohrzuckerbraune Bambushütte, das allgegenwärtige Meeresrauschen und, etwas entfernt, die lachende Frau mit dem Blumenkranz im Haar.
»Herzlich willkommen«, sagte Carina und kam langsam auf ihn zu.
Eine wohlige Hitzewelle schlug von innen gegen Simons Brust.
»Darf ich?«, fragte er noch einmal schüchtern und wunderte sich selbst über den veränderten Klang seiner Stimme. Dann, als die Männer lachend anfi ngen zu klatschen, setzte er tapsig, wie ein junger Hund, seinen nackten Fuß in den cremeweißen Sandhügel.
4.
B randmann drückte wieder auf »Play«, und das eingefro rene Standbild ruckelte vorwärts. Auf der Leinwand wurde
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