Das Kind
sich, ob der Typ mit dem Nasenpiercing und den ungewaschenen Haaren jemals zur Schule gegangen war. Die Oberlippe des Halbstarken war weit über das Zahnfl eisch zurückgezogen, was gemeinsam mit einem gewaltigen Überbiss den Eindruck verstärkte, als grinse er ununterbrochen.
»Dann geht’s nicht«, nuschelte Sly und legte seine Beine auf den Schreibtisch. Der Kerl hatte sich ihm mit diesem lächerlichen Angeberpseudonym vorgestellt, als Stern vor wenigen Minuten das kleine Büro im Erdgeschoss des Speditionsunternehmens betreten hatte.
»Was wollen Sie denn in der Sechs? Ich glaub, die einstelligen Garagennummern vermieten wir gar nicht mehr.« Simon hatte sich vorhin im Krankenhaus nur bruchstückhaft an die Adresse erinnern können. Aber allein der Hinweis »Spreegaragen« war völlig ausreichend gewesen. Stern kannte die baufälligen Speicheranlagen am Kanal in AltMoabit. Der Hauptsitz der Urberliner Firma war ein sandfarbener Backsteinbau direkt am Wasser. Etwas dahinter lagen die Schuppen, die von einigen Kunden zur Zwischenlagerung ihrer Möbel, Elektrogeräte und anderen Gerüm pels benutzt wurden. Die Geschäfte liefen nicht mehr so gut, seitdem ausländische Hilfsarbeiter schon für 2,50 Euro die Stunde Waschmaschinen schleppten, und deshalb hatte der Eigentümer in den letzten Jahren nicht mehr renoviert. In dem speckigen Büro stank es gleichzeitig nach Rauch und Toilette, was vermutlich an dem Duftbäumchen lag, das Sly an die Deckenlampe gehängt hatte, um sich vor den Anstrengungen regelmäßigen Lüftens drücken zu können. Kein Wunder, dass sich die Schimmelränder über die geschlossenen Jalousien bis unter die Decke zogen. Stern war es unbegreifl ich, warum man ausgerechnet an einem regentrüben Herbsttag wie heute auch noch das letzte bisschen Restlicht aus seinem Zimmer aussperren wollte.
»Ich bin Nachlassverwalter und auf der Suche nach den Erben eines möglicherweise gewaltigen Vermögens«, leierte Stern seine Geschichte herunter, die er sich auf der Fahrt vom Krankenhaus hierher zurechtgelegt hatte. »In Garage Nummer sechs vermuten wir Hinweise, die uns nützlich sein könnten.«
Während er weiterredete, öffnete er seine Brieftasche und zog zwei Geldscheine hervor. Sly nahm die Beine vom Tisch, und sein dümmliches Grinsen wurde breiter. »Ich riskier doch nicht für hundert Tacken meinen Job«, heuchelte er Entrüstung.
»Doch, tust du.«
Stern drehte sich zu dem keuchenden Mann um, der soeben lautstark das Büro betreten hatte, und steckte sein Geld wieder ein.
»Verdammt, hier stinkt es ja wie in einer Rattensauna«, fl uchte der schwitzende Glatzkopf, dessen Anblick an einen aufrecht stehenden Buddha erinnerte. Auf Andi Borcherts Rücken hätte man gut und gerne einen Breitbildfernseher montieren können, ohne dass er an den Schultern überstand.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Sly und sprang auf. Sein Grinsen schien wie aus dem Gesicht gebügelt. »Bloß keine Umstände, du kannst ruhig sitzen bleiben.« Borchert drückte den Halbstarken einfach auf seinen Stuhl zurück und ging zu dem Schlüsselbord, das neben einer plakatgroßen Landkarte von Berlin an der Wand hing. »Um welche Garage dreht es sich denn, Robert?« »Die Sechs.« Stern fragte sich, ob es richtig gewesen war, dass er vorhin seinen ehemaligen Mandanten angerufen und ihn um Mithilfe gebeten hatte. Er kannte die eigenwilligen Problemlösungsmethoden von Andreas Borchert, denn genau die waren es, die ihn vor zwei Jahren fast ins Gefängnis gebracht hatten. Damals war Borchert noch Produzent von billigen »Erwachsenenfi lmen« gewesen. Schmuddeligen Hardcorepornos, mit denen er ein kleines Vermögen machte, bis eines Tages am Set eine Darstellerin brutal vergewaltigt wurde. Alles deutete auf Borchert als Täter, bis Stern das Gericht in einem vielbeachteten Prozess vom Gegenteil überzeugen konnte. Andi war mit einer Bewährungsstrafe davongekommen, nachdem er nach seinem Freispruch den wahren Täter auf eigene Faust ausfi ndig gemacht und vernehmungsunfähig geprügelt hatte. Auch hier konnte Stern durch geschicktes Taktieren auf eine drastische Reduzierung des Strafmaßes hinwirken, was ihm eine unfreiwillige Duzfreundschaft mit Borchert eingebracht hatte. »Wenn du die Bullen holst, haben wir eine Verabredung«, keuchte Andi in Slys Richtung, während er den passenden Schlüssel vom Bord nahm. »Und zwar bei dir zu Hause, ist das klar?«
Stern konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sein Ex
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