Das Kind
ein Computerspiel aus dem Nachttisch hervorkramen würde. Dann aber sah er seine Lippen, die sich lautlos bewegten. Simon suchte offenbar nach den passenden Worten, um ihm seine Eindrücke besser erklären zu können: »Im Heim, da musste ich einmal die Glühbirne im Keller wechseln«, begann er leise. »Keiner von uns wollte das machen. Wir hatten alle Angst, da runterzugehen. Also zogen wir Streichhölzer, und mich hat’s erwischt. Es war wirklich unheimlich. Die nackte Birne hing an einem Draht von der Decke. Sie sah aus wie ein Tennisball. Gelb angelaufen und mit einem Pelz aus Spinnweben und Staub überzogen. Und sie machte Geräusche. So wie Jonas. Das ist ein Freund von mir. Er kann ganz laut seine Fingerknöchel knacken lassen. Genauso hörte es sich an. Die Lampe ging an und aus, und jedes Mal knackte es, wie wenn Jonas sich die Finger quetschte, bis irgendein Erwachsener etwas von Gicht und Rheuma erzählte und er aufhören musste.« Stern stellte keine Zwischenfragen und ließ ihn einfach weiterreden. Dabei schaute er auf seine eigenen Hände, deren Finger sich unbewusst wie zum Gebet verschränkt hatten.
»Als ich in den Wäschekeller ging, knackte es laut, und die Lampe flackerte. An, aus. Manchmal wurde es kurz etwas hell, dann dunkel. Doch selbst wenn es hell war, konnte ich nicht alles sehen. Dazu war die Birne einfach zu dreckig. Und weil sie so fl ackerte, war alles in Bewegung. Ich wusste natürlich: Auf der einen Seite hängt die Bettwäsche zum Trocknen, mit den Handtüchern. Und auf der anderen stehen die Körbe mit unseren Hosen und T-Shirts. Aber das Licht zitterte doller als ich selbst, und ich hatte Angst, hinter den Laken würde ein Mann stehen und mich holen. Ich war damals viel kleiner und hab mir vor Angst fast in die Hosen gemacht.«
Stern zog die Augenbrauen hoch und nickte gleichzeitig. Zum einen, weil er die Furcht des Jungen nachvollziehen konnte. Zum anderen, weil ihm langsam klar wurde, was er ihm damit sagen wollte.
»Ist es jetzt wieder so? Mit den Bildern, die du siehst?« »Ja. Wenn ich mich an mein früheres Leben erinnere, ist es so wie an dem Tag im Heim. Ich bin wieder in dem Keller, und die schmutzige Lampe flackert.«
Knack. Knack.
»Deshalb sehe ich nur Umrisse, Schatten. Es ist verschwommen … Aber ich glaube, das Licht wird von Nacht zu Nacht stärker.«
»Du meinst, du kannst dich nach dem Aufwachen immer besser erinnern?«
»Ja. Gestern zum Beispiel war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich den Mann wirklich getötet habe. Mit der Axt. Aber heute Morgen war es dann ganz klar. Genauso wie diese Zahl.«
Knack.
»Welche Zahl?«
»Die Sechs. Sie ist nur aufgemalt.«
»Wo?«
Knack. Knack.
»Auf einer Tür. Aus Metall. Sie steht nahe am Wasser.« Stern sehnte sich plötzlich danach, etwas zu trinken. Ein unangenehmer Geschmack lag auf seiner Zunge, und er wollte ihn fortspülen. Genauso wie die schreckliche Ahnung, die Simons Worte bei ihm hervorriefen.
»Was ist da passiert?«, fragte er, ohne es wissen zu wollen. Was geschah hinter der Tür. Mit der Nummer sechs?
Draußen auf dem Gang begann ein Mann zu pfeifen, und Schritte entfernten sich vor dem Zimmer, aber Sterns Gehirn fi lterte alle akustischen Ablenkungen heraus, bis nur noch die Sätze des Jungen übrigblieben. Sätze, die den Todeskampf des Mannes beschrieben, den Simon vor zwölf Jahren ermordet haben wollte.
Zwei Jahre vor seiner Geburt.
Stern wünschte sich sehnlich, dass sie jemand stören würde, damit er nicht alle Einzelheiten erfahren musste. Über das gezackte Messer, mit dem das Opfer dem Angreifer vor seinem Tode noch eine Wunde beibringen konnte. Ungefähr in der Körperregion, wo sich heute Simons milchkaffeebraunes Muttermal befand.
Robert sah hilfl os zur Zimmertür, doch sie blieb geschlossen. Kein Arzt, keine Schwester unterbrach die schrecklichen Schilderungen, die Simon mit fast teilnahmsloser Stimme von sich gab. Seine großen Augen hielt er jetzt wieder geschlossen.
»Weißt du die Adresse?«, keuchte Stern, als der Junge endlich fertig war. Das Blut in seinen Ohren rauschte so laut, dass er sich selbst kaum sprechen hörte. »Ich glaub nicht. Doch. Vielleicht.«
Simon sagte nur noch ein Wort, das aber ausreichte, um Sterns gesamten Körper mit einer Gänsehaut zu überziehen.
Robert kannte den Ort. Er war dort früher manchmal spazieren gegangen. Mit Sophie. Als sie schwanger war. 6.
N ein, ich habe keinen Durchsuchungsbefehl. Ich bin ja
auch kein Polizist.«
Stern fragte
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