Das Kind
mandant mit diesen Worten einfach aus dem Büro ging, ohne das schüchterne Kopfnicken des Speditionsangestellten abzuwarten.
Er schloss zu ihm auf und stapfte mit ihm über den unbefestigten Kiesweg zu den Garagen.
»So, nun noch mal kurz für Menschen ohne Abitur.« Dass Borchert bei jedem zweiten Schritt mit seinen weißen Boxerstiefeln in eine Pfütze stakte, schien ihm nichts auszumachen. Schweißtropfen liefen ihm die Schläfe entlang. Seine Eigenschaft, schon bei der geringsten körperlichen Anstrengung ins Schwitzen zu geraten, hatte ihm mehrere Spitznamen eingebracht. Mr. Rubens, Sumo, Drüse … Borchert kannte sie alle, obwohl nicht einer ihm jemals ins Gesicht gesagt worden war.
»Alles, was ich am Telefon verstanden habe, war, dass du Hilfe brauchst, weil ein zehnjähriger Junge einen Mann ermordet hat.«
»Mehrere, um genau zu sein.« Stern erzählte ihm auf dem Weg über das Speditionsgelände die wahnwitzige Geschichte und redete immer schneller, je ungläubiger der Gesichtsausdruck seines ehemaligen Mandanten wurde. Schließlich blieben sie in Höhe eines rostbraunen Containers für Bauabfälle stehen, in den gerade eine schwarze Katze hineinkletterte.
»Getötet? Vor fünfzehn Jahren, in einem früheren Leben? Du willst mich doch verscheißern!«
»Glaubst du, ich würde mich an dich wenden, wenn ich eine andere Wahl hätte?« Stern strich sich das Haar nach hinten und gab Borchert ein Zeichen, ihm weiter auf dem Weg zu der Garage zu folgen.
»Seitdem ich gestern diese Leiche fand, ist Martin Engler andem Fall dran. Der Kommissar, der damals auch dir ans Leder wollte.«
»Ich erinnere mich an den Mistkerl.«
»Und er sich daran, wie ich ihm seinen schönen Verhaftungserfolg ruiniert habe.«
Engler hatte bei seinen Ermittlungen versäumt, einen Blick in Borcherts Krankenakte zu werfen. Andi litt seit seiner Jugend unter partieller erektiler Dysfunktion. Verständlicher ausgedrückt hieß das: Er war nahezu impotent und bekam, wenn überhaupt, nur nach langem Vorspiel und in gewohnter Umgebung eine Erektion. Andi konnte das junge Mädchen nicht vergewaltigt haben.
Borchert war Stern auf ewig dankbar, dass er nicht nur den Freispruch, sondern auch eine Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit erwirkt hatte. Ein Pornoproduzent, der keinen hochbekam – er wäre die Witzfi gur der Szene gewesen. Obwohl dank Stern nichts von den pikanten Details durchsickerte, kehrte Borchert dennoch nach dem Prozess der Filmerei den Rücken und betrieb heute mehrere gut laufende Diskotheken in Berlin und Umgebung. »Er würde mir nur zu gern etwas anhängen.« »Ich helfe dir ja, nur verstehen tu ich’s nicht. Warum lässt du dich da reinziehen?« Borchert trat eine leere Bierdose aus dem Weg.
»Ich habe den Fall des Jungen nun mal übernommen, okay?« Stern wich der Frage aus.
Noch wollte er Borchert nicht von der DVD erzählen, obwohl das sofort erklärt hätte, warum er einen Beschützer an seiner Seite brauchte. Andi war der Einzige, den er kannte, der kaltblütig genug war, ohne größere Erklärungen für ihn im Dreck zu wühlen. Allerdings befürchtete er, dass sein früherer Klient ihn für wahnsinnig erklären würde, wenn er zugab, aus welchem Grund er wirklich den Pfaden nach ging, die Simon in einem früheren Leben beschritten haben wollte.
Und vielleicht bin ich das auch? , dachte er. Wahnsinnig ge worden. Da war dieses Zwei-Minuten-Video – und andererseits waren da sämtliche Naturgesetze, die gegen die Annahme sprachen, Felix könnte noch leben. Aber die sprachen auch dagegen, dass Simon sich an Morde erinnern konnte, die lange vor seiner Geburt geschehen waren. »Gut. Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.« Borchert hob die Hände, als würde Stern eine Pistole auf ihn richten. »Aber sag mir jetzt bitte nicht, dass wir hier nach einer neuen Leiche suchen.«
»Doch. Ich war vorhin bei Simon im Krankenhaus, und er nannte mir diese Adresse hier.«
Der Nieselregen hatte etwas nachgelassen, und Stern konnte endlich wieder nach vorne sehen, ohne ständig wegen der feinen Tropfen blinzeln zu müssen. Das metallene Garagentor mit der Nummer sechs war höchstens noch fünfzig Meter weit entfernt und gehörte zu einem Block unansehnlicher Verschläge in Wurfweite zur Spree.
»Simon sagt, er hat ihm vor zwölf Jahren die Beine abgetrennt, damit er besser in den Kühlschrank passte.«
S tern wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte, als sie
die Tür öffneten. Vielleicht ein Knäuel von Ratten, das
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