Das Kind
Ich glaub auch nicht, dass Sie ein Mörder sind, Stern.«
Es waren die einzigen Worte, die Engler leicht über die Lippen gingen.
»Sondern?«
Die Sonne war untergegangen, und mit jedem Satz ihres Gespräches wurde es um sie herum dunkler. Engler war dankbar über die Baustellenlampe, die ihnen im Unterstand ein wenig Licht spendete. Er zögerte und warf Brandmann einen fragenden Blick zu.
Sollte er das wirklich tun? Alles in ihm sträubte sich dagegen, aber der Kriminalpsychologe nickte ihm aufmunternd
zu, und deshalb hielt Engler sich an die Strategie, die sie vorhin bei der Besprechung mit Kommissariatsleiter Hertzlich verabredet hatten.
»Schön, ich verrat Ihnen jetzt mal was. Aber nur, weil es morgen eh in allen Zeitungen steht: Der Mann mit der Axt im Kopf hieß Harald Zucker. Der im Kühlschrank war Samuel Probtjeszki. Von dem einen haben wir fünfzehn, von dem anderen zwölf Jahre lang nichts mehr gehört. Wollen Sie wissen, warum uns das bis heute scheißegal war?« »Es waren Verbrecher.«
»Richtig. Und zwar der übelsten Sorte. Mord, Vergewaltigung, Prostitution, Folter. Die haben sich einmal durch die Kapitaldelikte des Strafgesetzbuches gearbeitet und dabei eine Blutspur quer durchs Land gezogen. Wir sind gar nicht mehr mit dem Aufwischen hinterhergekommen.« Engler hörte, wie Brandmann sich eine Zigarette anzündete. »Wir denken, Zucker und Probtjeszki gehören zu einer Bande von Psychopathen. Sie sind nämlich nicht die Einzigen, die in den letzten Jahren spurlos verschwanden. Insgesamt haben wir sieben ungeklärte Fälle.« In der Ferne tasteten die Beamten der Spurensicherung mit Halogenstrahlern das feuchte Erdreich ab. Zwei seiner Leute hockten mit weißen Ganzkörperoveralls bekleidet im Schlamm und hoben noch ein weiteres Grab aus. Möglicherweise war Pluto ja nicht der einzige Platzhalter hier. Engler musste an Charlie denken. Zum Glück kümmerte sich heute eine Freundin um das arme Tier und ging mit dem Labrador Gassi, auch wenn er bezweifelte, dass der Hund dies bei dem Regen heute genießen würde. »Und was ist mit dem letzten Fund?«, fragte Stern und klang etwas abgelenkt. So, als müsste er die letzte Information erst noch verdauen. »Wie passt der in die Reihe? Es war ein Kind,
oder?«
»Ja. Wir vermuten, es handelt sich um Lucas Schneider. Geht auf Probtjeszkis Konto. Das Opfer einer fehlgeschlagenen Lösegelderpressung der Bande. Wir fanden den Körper des Jungen vor zwölf Jahren auf einer Müllkippe. Nach seinem Kopf fahndeten wir vergeblich. Bis heute.« Engler kramte in seiner Leinenhose nach einem Taschentuch. Er konnte es nicht rechtzeitig fi nden und nieste deshalb durch den Mund aus, während er sich gleichzeitig die Nase zuhielt. Irgendjemand hatte ihm mal gesagt, dass er dadurch Druck im Kopf aufbauen und einen Schlaganfall riskieren würde, aber er konnte sich kaum vorstellen, dass das Schwert des Schicksals ihn ausgerechnet auf einem Tierfriedhof fällen würde.
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, hörte er Stern fragen. Engler nickte und sah ärgerlich zu Brandmann. Genau die Frage hatte er vorhin bei der Lagebesprechung mit Hertzlich gestellt. Ihre Masche war so billig, dass sie jeder Trottel erkennen musste. Und Stern sowieso.
»Weil ich Sie durchschaut habe«, antwortete er widerwillig wie vereinbart.
»Na, jetzt bin ich mal gespannt.«
»Sie sind kein Profi , Stern. Dazu machen Sie viel zu viele Fehler. Das einzig Intelligente von Ihnen bisher war, Ihr Handy gegen das Satellitentelefon auszutauschen, mit dem Sie mich gerade anrufen. Aber den Tipp haben Sie vermutlich von Borchert bekommen.«
»Ich bin nicht auf der Flucht. Ich habe niemanden ermordet.«
»Das sage ich ja auch gar nicht.«
»Sondern?«
»Okay, ich zähl für Sie jetzt einfach mal die Fakten zusam men. Erstens: In den letzten Jahren verschwanden sieben Psychopathen nach und nach von der Bildfl äche. Zweitens: Zwei davon haben Sie uns wieder zurückgebracht. Als Leichen. Und drittens: Sie sind Strafverteidiger.« Stern stöhnte am anderen Ende der Leitung auf. »Worauf wollen Sie denn damit hinaus?«
»Dass es Ihr Beruf ist, sich mit Abschaum abzugeben. Mit Simon hat das alles nichts zu tun. Der ist nur vorgeschoben. Ich mutmaße mal, irgendeiner Ihrer perversen Mandanten verrät Ihnen die Fundorte der Leichen.«
»Und wieso sollte jemand das tun? Zu welchem Zweck?« »Vielleicht hat dieser Klient etwas bei den Opfern versteckt, das Sie jetzt für ihn holen sollen? Keine Ahnung. Aber das
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