Das Kind
berichteten. Kleine Jungen mit faltenfreier Haut und dem Tod in den Augen. Er räusperte sich.
»Du hast eben von einem Zeichen geredet. Was wünschst du dir denn für einen Hinweis von Gott?«
»Ob ich weitermachen soll.«
Er will es wieder tun, erinnerte sich Stern an Carinas
Worte.
»Womit?«
»Na ja. Damit eben.«
»Ich glaube, ich verstehe dich nicht.«
»Ich bin doch eingeschlafen. Vorhin im Auto.« »Hast du wieder etwas geträumt?«
Knack. Die Kerze auf dem Altar schien sich zu der Keller lampe zu verwandeln, die im Schlaf Simons Erinnerungen beleuchtete.
»Ja.«
»Von den Morden?«
»Genau.« Simon drehte seine Hände mit den Innenseiten nach oben und sah verstohlen auf sie herab. So, als hätte er sich wie für ein Schuldiktat einige Vokabeln mit Kugelschreiber auf der Haut notiert. Aber außer dem zarten Liniengeäst unterhalb seiner Finger konnte Stern keinen Spickzettel erkennen, der Simon jetzt half, die richtigen Worte zu fi nden.
»Ich weiß jetzt, warum ich ›Pluto‹ auf das Bild geschrieben habe.«
Knack.
»Warum?«
»Das war sein Lieblingskuscheltier.«
»Wessen?«
»Von Lucas Schneider. Er war genauso alt wie ich. Also damals, meine ich. Vor zwölf Jahren.«
»Denkst du, du hast ihn getötet?«
Damals. In deinem anderen Leben?
Sterns Kopfschmerzen nahmen zu, je mehr er sich gedanklich diesem Irrsinn annäherte.
»Nein.« Simon funkelte ihn entrüstet an. Das Leben war in seine Augen zurückgekehrt, wenn auch ein wütendes. »Ich habe doch keine Kinder ermordet!«
»Ich weiß. Aber die anderen. Die Verbrecher?«
»Genau.«
»Dann warst du so etwas wie ein Rächer?« »Vielleicht.«
Simons Oberkörper zuckte.
Stern wollte schon Carina holen, in der Hoffnung, dass sie die erforderlichen Medikamente dabeihatte, falls er jetzt wieder einen Anfall bekam. Dann bemerkte er die Träne auf der Wange des Jungen.
»Ist ja gut, komm.« Unsicher streckte er seine Hand nach dem weinenden Kind aus. Als bestünde die Gefahr, sich an dessen Schulter zu verbrennen. »Lass uns gehen.« »Nein, noch nicht.« Simon zog die Nase hoch. »Ich bin noch nicht fertig. Ich muss ihn erst fragen, ob ich das wirklich tun soll.«
Knack. Knack. Knack.
Für einen kurzen Moment hatte sie sich beruhigt, aber jetzt schien die Kellerlampe schneller zu fl ackern als jemals zuvor.
»Was denn?«
»Ich hab doch damals nicht alles geschafft.« »Ich verstehe dich nicht, Simon. Was meinst du? Womit bist du nicht fertig geworden?«
»Mit den Männern. Ich hab früher viele von ihnen umgebracht. Das weiß ich genau. Nicht nur die beiden, die du schon gefunden hast. Es waren noch mehr. Viel mehr. Aber ich hab sie nicht alle geschafft. Einer fehlt noch.« Jetzt war es Stern, der nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. Der Junge brauchte dringend einen Psychologen und keinen Anwalt.
»Und deshalb bin ich noch einmal zurückgekommen, glaube ich. Das ist mein Auftrag. Ich muss es noch einmal tun.« Bitte nicht. Bitte hör jetzt auf zu reden.
»Töten. Ein letztes Mal. Übermorgen, in Berlin. Auf einer Brücke.«
Simon drehte sich weg und sah zu der Jesus-Figur über dem Altar. Er faltete die Hände, schloss seine großen Augen und fi ng an zu beten.
Die Erkenntnis
Der Tod ist kein Abschnitt des Daseins,
sondern nur ein Zwischenereignis, ein Übergang aus einer Form des endlichen Wesens in eine andere.
Wilhelm von Humboldt
Wenn die Seele wandert, dann funktioniert das doch nur bei einer konstanten Menge an Menschen. Heute gibt’s aber sechs Milliarden davon. Teilen die sich nun Seelensplitter? Sind neunundneunzig Prozent davon leere Gefäße? Aus einem Internetforum zur Diskussion
über die Möglichkeit einer Wiedergeburt
Die Wissenschaft hat festgestellt, dass nichts spurlos verschwinden kann. Die Natur kennt keine Vernichtung, nur Verwandlung. Alles, was Wissenschaft mich lehrte und noch lehrt, stärkt meinen Glauben an ein Fortdauern unserer geistigen Existenz über den Tod hinaus.
Wernher von Braun
Wenn alle, von denen behauptet wird, sie hätten die Kreuzigung Christi in einem früheren Leben beobachtet, wirklich zugegen gewesen wären, hätten die römischen Krieger bei diesem Ereignis wohl keinen Platz mehr zum Stehen gehabt. Ian Stevenson
1.
E r fand kaum Worte dafür, wie sehr ihm die ganze Situation
auf den Sack ging, als er das elastische Polizei-Absperrband über seinen Kopf hob und mit einem Wink den Fundort für den Gerichtsmediziner freigab. Engler hatte geplant, den Nachmittag mit einer Familienpackung
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