Das Kind
suchte in ihren Augen vergeblich nach einem Anzeichen der Beunruhigung.
»Das muss es nicht. Es war alles meine Entscheidung«, erwiderte Carina. »Ich hab euch zusammengebracht. Ohne mich würdest du jetzt nicht in diesen Schwierigkeiten stecken.«
»Wieso bist du so ruhig?« Stern fühlte sich plötzlich an eine Szene von vor zwei Jahren erinnert. Damals, auf dem Parkplatz eines McDonald’s. Als er Schluss gemacht und sie trotzdem gelächelt hatte.
»Weil es sich gelohnt hat.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sieh doch nur. Ich kenne Simon jetzt seit anderthalb Jahren. So glücklich habe ich ihn selten erlebt.« Stern beobachtete, wie Borchert ihm zuwinkte, und fragte sich, ob er jemals die Welt mit Carinas Augen sehen würde. Sie waren nicht länger als zehn Tage zusammen gewesen, als er sich von ihr trennte. Gerade noch rechtzeitig, bevor er sich ernsthaft in sie verlieben konnte. Als sie zum Abschied sanft seine Wange berührte, lernte er etwas Entscheidendes über sich selbst. In diesem Augenblick erkannte er, dass ihm
dieser Lebensfi lter fehlte, der es Carina ermöglichte, in jeder schrecklichen Umgebung das Negative auszublenden, bis sie sogar noch am Rande eines Schlachtfeldes eine Rose entdeckte.
Jetzt beobachtete er wieder dieses Leuchten in ihren Augen, die winzigen Lachfalten. Für Carina gab es in diesem Augenblick keine Verbrecher, keinen Hirntumor und keine Großfahndung. Sie freute sich über einen glücklichen Jungen, der zum ersten Mal in seinem Leben in einer Diskothek tanzte. Stern dagegen wurde immer trauriger. Denn er bedauerte ein Kind, das niemals Ärger bekommen würde, weil es am Wochenende zu spät vom Tanzen nach Hause kam, nachdem es mit seiner ersten Liebe zu lange in der Disco geknutscht hatte.
Passend zu seinen negativen Gedanken, begann ein neuer Song. Jetzt füllten die melancholischen Streicherklänge einer Ballade den Saal.
»Hey, sie spielen euer Lied!«, grinste Borchert und verschwand hinter einer ionischen Ziersäule. Eine Sekunde später zischte es, und eine Trockeneiswolke vernebelte die Tanz fl äche.
»Cool«, jauchzte Simon und setzte sich auf den Boden. Nur noch sein brauner Schopf lugte aus den künstlichen Wolken hervor.
»Wir müssen ihn ins Krankenhaus zurückbringen«, protestierte Stern, als er Carinas Hand spürte. »Komm schon. Nur eine Minute.«
Sie zog ihn auf die Tanzfl äche, so wie sie ihn in ihrer ersten Nacht in ihr Schlafzimmer geführt hatte. Wie damals wusste er nicht, warum er es geschehen ließ.
»Wir können hier nicht …«
»Schhhhh …« Sie legte ihren Finger auf seine Lippen und
strich ihm sanft durchs Haar. Dann zog sie ihn zu sich heran, gerade als der Refrain begann.
Er zögerte. Noch erwiderte er ihre vorsichtige Umarmung nicht. Er fühlte sich wie eines dieser Pakete mit einem »Glas – Zerbrechlich«-Aufkleber.
Aus Angst, etwas in ihm könnte Schaden nehmen, wenn er sie an sich drückte, wagte er kaum zu atmen. Schließlich überwand er seine dumme Furcht und streckte beide Arme aus.
Dabei musste er an den fl üchtigen Augenblick in Borcherts Wagen denken, als er im Rückspiegel Simon in ihren Armen schlafen gesehen hatte. Im ersten Moment hatte er das Gefühl nicht einordnen können. Doch jetzt wusste er, dass es eine Mischung aus Sehnsucht und Reue gewesen war, die ihn jetzt schon wieder erfüllte. Eine Sehnsucht sowohl nach Felix als auch nach einer ähnlich liebevollen Berührung. Die Reue darüber, dass er Carina beides durch die abrupte Trennung verweigert hatte: das eigene Kind ebenso wie den Mann in ihren Armen, zu dem sie sich ganz offenbar immer noch hingezogen fühlte. Obwohl er es aus keinem Grund der Welt verdiente.
Carina spürte ganz offensichtlich die widersprüchlichen Emotionen, die in seinem Inneren kämpften, und riss die letzten physischen Barrieren ein, indem sie ihren warmen Körper fordernd gegen den seinen presste. Stern schloss die Augen, und die Reue verschwand. Leider nur für einen kurzen Moment. Die magische Sekunde, in der er glaubte, ihr Puls würde im Gleichtakt zur Musik schlagen, wurde jäh durch ein helles Fiepen zerstört. Er erstarrte in Carinas Armen.
Wie konnte das sein?
Borchert hatte ihm doch gesagt, dass niemand von dieser
Nummer wusste. Trotzdem war soeben auf dem Satellitentelefon in seiner Hosentasche eine SMS eingegangen. 4.
V erdammt, was ist hier los?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Borchert tippte eine Internetadresse in das Eingabefeld und klickte dann auf »Wechseln zu«.
»Du hast
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