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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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ganz wichtig. Frag ihn, mit welchem Namen er es unterschrieben hat.« Der Hörer wurde weggelegt, und Stern glaubte das Knarren einer Tür zu vernehmen, war sich aber nicht sicher. Im Hintergrund rauschte und zischte es wie bei einem schlechten Radioempfang. Es dauerte mindestens eine halbe Minute, bis es in der Leitung piepte – Carina war aus Versehen auf >eine Wähltaste gekommen, als sie den Hörer wieder an sich
nahm.
»Hörst du mich?«
»Ja.« Sterns Finger zitterten, während er über den eingemeißelten Schriftzug auf dem Granit fuhr. Buchstabe für Buchstabe. Er konnte den Namen, den Carina ihm nannte, auf dem Grabstein mitlesen.
»Pluto. Simon hat ›Pluto‹ darunter geschrieben. Aber du solltest jetzt besser schnell zu uns kommen.« Stern hörte ihr nicht mehr zu, gab nur noch mechanisch seine Antworten.
»Warum?«, fragte er leise, seine Augen immer noch auf den Grabstein mit dem Namen der Zeichentrickfi gur gerichtet. Durch den Regen sah er aus wie in Öl getaucht. »Komm sofort her«, forderte Carina, und schließlich war es die drängende Angst in ihrer Stimme, die einen Schalter in seinem Bewusstsein umlegte. Er konnte im Moment nicht klären, wer oder was in diesem Grab lag, und warum. Ein Tier? Ein Mensch? Ein Kopf?
Er konnte nicht herausfi nden, warum Simon sie zu diesem Ort geführt hatte, der einer Zeichnung entsprach, die gleich mehreren Händen entsprungen war. Denen eines Jungen und eines Toten. In diesem Moment konnte er nur klären, warum Carina nahe dran war, ihn panisch anzubrüllen. »Was ist denn passiert, um Gottes willen?« »Simon«, antwortete sie abgehackt. »Er sagt, er will es wieder tun.«
»Was denn?« Stern stand auf und sah zu Borchert. »Was will er tun?«
Und was heißt »wieder«?
»Beeil dich. Ich denke, das sollte er dir besser selbst sagen.«
19.
S onst war niemand mehr da. Die Kirche war leer, und es fiel
ihm schwer, sich vorzustellen, dass es Menschen gab, die hier in dieser schlichten Umgebung Trost fi nden konnten. Stern zog seinen nassen Mantel aus und legte ihn sich über den Arm. Er bereute es sofort. Hier drinnen war es kalt und zugig. Die Luft roch nach Staub und alten Gesangbüchern, und vermutlich war es sogar von Vorteil, dass durch die bunten Oberlichter heute keine Sonne fi el, sonst wäre der abgeblätterte Putz vielleicht noch deutlicher ins Auge gesprungen. Stern hätte sich nicht gewundert, wenn der Küster den sterbenden Jesus nur an die Wand gehängt hätte, um damit einen weiteren Baumangel zu überdecken. Eine intime Atmosphäre konnte hier jedenfalls nicht aufkommen. »… weiß ich nicht mehr weiter. Ist es richtig? Ist es falsch? Soll ich es tun, oder soll ich …«
Stern hielt den Atem an und achtete auf das zischende Flüstern, das von vorne aus der zweiten Reihe kam. Er hatte ihn natürlich schon beim Eintreten bemerkt. Simon. Aus dieser Entfernung sah er aus wie ein kleiner Erwachsener. Ein altes Männchen, in sich gekehrt, im Zwiegespräch mit seinem Schöpfer. Stern näherte sich vorsichtig der fl üsternden Stimme, konnte aber nicht verhindern, dass seine Ledersohlen auf dem staubigen Steinfußboden laut knirschten. »… bitte gib mir ein Zeichen, ob ich …«
Simon stockte und sah auf. Er löste seine gefalteten Hände, als wäre es ihm peinlich, beim Beten beobachtet zu werden. »Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht stören.« »Kein Problem.«
Der Junge rutschte einen Platz weiter.
Kein Wunder, dass immer weniger Leute zum Gottesdienst
gehen, wenn die Bänke so hart sind, schoss es Stern durch
den Kopf, als er sich setzte.
»Ich bin gleich fertig«, fl üsterte Simon, die Augen nach vorne zum Altar gerichtet. Stern wollte ihn packen, mit ihm nach draußen eilen, zu Carina, die nervös mit einer Zigarette in der Hand gemeinsam mit Borchert vor der Kirche auf sie wartete.
»Betest du zu Gott?«, fragte er ihn leise. Obwohl sie hier allein waren, fl üsterten sie so wie vorhin im Nachttierhaus. »Ja.«
»Willst du was Bestimmtes von ihm?«
»Wie man es nimmt.«
»Alles klar, geht mich ja auch nichts an.« »Das ist es nicht. Ich meine nur …«
»Was?«
»Na ja. Du verstehst es doch eh nicht. Du glaubst ja nicht an Gott.«
»Wer sagt das?«
»Carina. Sie meint, dir ist mal was Schlimmes passiert, und seitdem liebst du keinen mehr. Nicht mal dich selbst.« Stern sah ihn an. Im Halbdunkel der Kirche verstand er auf einmal, was Entwicklungshelfer meinten, wenn sie von dem leeren Gesichtsausdruck der Kindersoldaten

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