Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Offensichtlich hatte niemand etwas gehört.
»Ich wollte nur wissen, ob du heute Abend noch nach Hause
kommst? Das Essen wird kalt. Hüthchen hat extra Königsberger Klopse gemacht.«
»Nein«, sagte ich leise. »Ich bin verhindert.«
»Wo bist du denn? Musst du schon wieder arbeiten? Wir machen uns Sorgen. Du solltest eigentlich im Bett liegen …«
Ich schaltete das Handy aus. Marie-Luise machte das Gleiche mit ihrem. Wir warteten zur Sicherheit noch einen Moment.
»Jetzt«, sagte ich.
Wir legten uns auf den Bauch und krochen, vor Blicken durch den Pavillon geschützt, zum Ufer. Dann ließen wir uns ins Wasser sinken und schwammen los. Nach zwei weiteren Wassergrundstücken und einem geschlossenen Ausflugslokal waren wir auf Höhe der Villa.
Sie war auch vom Wasser gut gesichert. Allerdings war der Zaun hier nur aus Maschendraht. Wir schwammen vorsichtig an Land, dann ließ ich das Wasser aus meiner Sporttasche laufen und holte die Drahtzange heraus. Ich schnitt den Zaun von unten etwa einen Meter hoch auf und bog die Enden auseinander. Ich stieg als Erster durch das Loch. Dann half ich Marie-Luise hindurch. Die Lücke verschloss ich, so gut es ging.
Das Haus lag dreißig Meter vom Ufer entfernt. Wir drangen durch das Allerheiligste ein, das geschützte Areal, das von der Straßenseite her nicht zu sehen war. Links und rechts wurden die Grenzen von dichtem Gebüsch und hohen Bäumen markiert. Auf der linken Seite erkannte ich einen Bagger. Geduckt liefen wir das Gelände hoch und gelangten auf eine Terrasse. Zwischen geborstenen Steinplatten wucherte Unkraut. Die Tür und die Erdgeschossfenster waren mit Holz vernagelt. Ich setzte das Brecheisen an und versuchte mehrmals, eines der Bretter zu lockern. Es gelang mir nicht.
Marie-Luise stand einige Schritte entfernt und machte immer wieder »Schschsch«.
»Ich muss es ja irgendwie versuchen!«, zischte ich ihr zu.
Sie sah sich die Tür sorgfältig an und warf dann einen Blick zu den Fenstern im ersten Stock. Auf dieser Seite hatten sie noch ihre Scheiben. Es war nichts zu machen. Wir versuchten es bei den Erdgeschossfenstern, aber wir scheiterten. Marie-Luise deutete mit einer Kopfbewegung an, nach links zu gehen.
An diese Ecke hatte man einen spitzgiebeligen Turm an die Villa gebaut. Eine schmale Treppe wand sich ein Stockwerk weit nach oben. Sie sah aus wie ein Dienstbotenaufgang. Wir schlichen die Stufen nach oben und standen vor einer Eisentür. Ich versuchte, die Zargen mit der Brechstange zu lockern. Es war laut und zeigte keine Wirkung.
»Warum hast du das Ding eigentlich mitgenommen, wenn du nicht damit umgehen kannst?« Marie-Luise trat einen Schritt zurück und schaute nach oben. Es knirschte unter ihren Füßen. Die Blechtür war mit einem Graffito verschmiert, eine wildexpressive Schrift, die ich nicht entziffern konnte.
»Vermutlich hat da oben jemand eine Party gefeiert«, flüsterte sie. »Und wenn die reingekommen sind, dann müssten wir es doch auch schaffen.«
Sie kletterte auf die Brüstung der Treppe und streckte die Arme hoch. Sie reichte nicht ganz bis ans Fensterbrett. »Hilf mir.«
Ich kletterte hoch zu ihr, stellte mich an die Wand und faltete die Hände so, dass sie ihren rechten Fuß hineinstellen konnte. Dann schwang sie sich nach oben.
»Pass auf die Scherben auf !«, rief ich ihr leise zu. Sie stieg aufs Fensterbrett und sprang hinunter. Ich hörte einen leisen Aufprall. Dann war es still.
»Marie-Luise?«
Keine Antwort.
»Marie-Luise!«
»Schrei doch nicht so!«
Sie erschien im Fenster. »Wirf mir die Taschenlampe hoch. Ich suche irgendetwas, an dem du hier hochsteigen kannst.«
Ich holte die Lampe aus der Sporttasche, zielte und warf. Marie-Luise fing sie auf und verschwand wieder. Ich wartete. Als ein Auto die Straße hinunterfuhr, ging ich hinter dem Treppenabsatz in Deckung. Scheinwerfer streiften über die Hauswand. Der Wagen entfernte sich. Im Haus hörte ich Schritte. Dann pfiff Marie-Luise leise. Ich kletterte wieder auf die Brüstung.
»Das war das Einzige, was ich finden konnte.«
Sie warf ein längliches Stück Stoff herunter, eine uralte Gardine. »Versuch es einfach.«
Sie band das Ende der Gardine an den leeren Fensterrahmen. Ich fasste das andere Ende und begann, die Fassade heraufzuklettern. Es fehlte nur ein Meter, aber der schaffte mich. Marie-Luise griff nach meinen Armen und half mir hinauf. Schwer atmend erklomm ich das Fensterbrett und stieg hinein.
»Wie ein nasser Sack«, sagte sie
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