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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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sie weg.
    »Es nutzt nichts, wenn du dich jetzt betrinkst. Aber jede Einzelheit, an die du dich erinnerst, könnte wichtig sein.« Ich beugte mich zu ihm. »Du hast Natalja schon einmal in Lebensgefahr gebracht. Ich denke, du schuldest ihr etwas.«
    »Ich schulde ihr etwas?«, fragte Utz. Dann drehte er sich um zu Sigrun. »Ich schulde ihr etwas?«
    Er schleppte sich zu seinem Sessel und ließ sich hineinfallen. Er holte tief Luft und fixierte Sigrun. »Ich schulde ihr mein Leben. Ich schulde ihr, dass ich überhaupt noch einmal lieben konnte. Deine Mutter, Sigrun. Und dich. Ich schulde ihr, dass sie für mich gesorgt hat, als ich krank war. Ich schulde ihr, dass sie mir Lieder vorgesungen hat, um die Geräusche zu übertönen, die aus dem Schlafzimmer meiner Mutter kamen. Ich schulde ihr so viel. Ich werde es niemals abtragen können.«
    »Warum hast du dann nicht reagiert, als sie deine Hilfe brauchte?«
    Utz schwieg. Seine Hände zitterten immer noch. Er faltete sie. Sigrun stand auf und setzte sich zu ihm auf die Lehne. Sie legte vorsichtig den Arm um seine Schulter, als ob sie befürchten müsste, dass er sie gleich wegschieben würde. Utz sah sie nicht an. Aber er ließ sich die Berührung gefallen.
    »Sechzig Jahre«, sagte er heiser. »Sechzig Jahre habe ich geglaubt, sie wäre tot. Ich hatte es schriftlich. Du hast das Schreiben gesehen, Joachim. Dieser Staat hatte das Töten perfektioniert. Warum hätte ich daran zweifeln sollen?«
    Sigrun nickte fast unmerklich. Ich sollte ihm glauben.
    »Ich war neun, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Meine Mutter hatte sie vom Arbeitsamt mitgebracht und in die Küche geschoben. Natalja Tscherednitschenkowa. Aus Prowery in der Ukraine. Sagt euch Prowery etwas?« Er sah auf seine gefalteten Hände. »Prowery wurde von den Deutschen zerstört. Die
Bewohner des Dorfes sind in die umliegenden Wälder geflohen. Die jungen Leute wurden in Züge gepfercht und ins Altreich geschickt. Das damalige so genannte Deutsche Reich, wenn ich es politisch korrekt ausdrücken soll. Bestehst du darauf?« Er sah zu Sigrun hoch.
    Sie lächelte und schüttelte leicht den Kopf.
    »Danke. Für manches gibt es keine neuen Begriffe mehr. Ich wüsste nicht, wie ich es anders ausdrücken sollte. Also verzeiht mir, wenn ich eine andere Sprache spreche. Es war ein anderes Land, und manchmal kommt es mir vor, als wären es komplett andere Menschen gewesen. – Einen Cognac?« Utz sah uns aufmunternd an.
    Wir gaben unsere Zustimmung. Während er zum Schrank ging und die Gläser holte, machte ich zu Sigrun eine Handbewegung: Lass ihn reden, hieß das. Ich würde auf der Hut sein. Denn immer noch erzählte er das, was er erzählen wollte, und nicht das, was wir wissen wollten.
    Utz schenkte sorgfältig ein und brachte uns die Gläser.
    »Auf uns. Darauf, dass wir miteinander reden.«
    Er setzte sich wieder. Bald würden wir wissen, was das hier werden sollte: eine Märchenstunde oder die Wahrheit.
    »Mit Natalja war eine volkspolitische Herausforderung ins Haus geschneit. Sie stand da, in ihrer grauen Steppjacke und den Stiefeln, zwei Zöpfe baumelten links und rechts herunter, riesengroße Augen in einem schmalen Gesichtchen. Ich dachte noch, wie soll sie hier arbeiten, sie muss erst einmal essen, und wir hatten selbst nicht gerade viel. In ihrer Tasche hatte sie noch ein paar Zwiebäcke und ihre Arbeitspapiere. Sie hatte Angst vor allem: dem Radioapparat, der Toilette, der Elektrizität. Und vor uns. Sie hat kein Wort Deutsch gesprochen. Auf dem Küchenboden hat sie geschlafen.«
    Der Küchenboden. Er lag direkt über der Speisekammer. Einen Meter fünfzig hoch, eins zwanzig breit, zwei Meter lang. Ein winziges,
rundes Fenster am Kopfende. Unbeheizt. Ich war einmal hinaufgeklettert, weil die Freifrau eines Abends auf einen ganz bestimmten Tafelaufsatz bestand, und hatte mir fluchend den Kopf angeschlagen. Das also war damals Nataljas Reich gewesen.
    »Wir hatten zu dieser Zeit noch eine Köchin. Es gab zwar kaum noch etwas zu kochen, aber sie war in der Zubereitung des Wenigen ausgesprochen phantasievoll. Sie hieß … Emma. Alle unsere Köchinnen hießen Emma. Sie kam aus Lemberg. Meine Mutter achtete sehr darauf, dass die Ordnungsmaßnahmen in Bezug auf Fremdarbeiter bei uns strikt eingehalten wurden. Das hieß, Natalja musste ihr Ost-Abzeichen tragen, wenn sie das Haus verließ, sie durfte nicht in die Kirche und nicht ins Kino, sie arbeitete von morgens fünf bis abends zweiundzwanzig Uhr, sie

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