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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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hat in der Küche gegessen, wo es warm war im Winter, und wir im Speisezimmer, wo mir vor Kälte die Gabel aus der Hand fiel. Unangenehm für uns, aber volkspolitisch völlig korrekt. Paula war als Mensch für uns nicht existent. Ja. So war das in deinem Elternhaus.«
    »Du warst ein Kind«, sagte Sigrun leise.
    Utz lachte kurz auf. »Das hättest du mir damals nicht laut sagen dürfen. Ich war einer der Ersten im Jungvolk. Und ich hatte einen Vater, der in Belgien wieder für Zucht und Ordnung sorgte, auch wenn man sich zu Hause nur noch an ihn erinnerte, wenn ein Paket mit Schokolade ankam. Er war ein großer Mann mit kräftiger Stimme. Ich hing an ihm, habe zu ihm aufgesehen. Vermutlich, weil er so selten da war. Meine Mutter nutzte seine Anwesenheit auf ihre ganz private Weise. Ich bin dann notgedrungen mit Paula und Emma in die Küche. Emma machte aus Mehl und Wasser Pfannkuchen mit Rübensirup und sang polnische Lieder. Natalja sang wunderschöne ukrainische Lieder. Und ich sang ›die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen‹.«
    Er sah Sigrun in die Augen. Sie reagierte genau so, wie er es erwartet – und provoziert – hatte.

    »Du hast das Horst-Wessel-Lied gesungen?«
    »Einer muss es ja schließlich getan haben«, sagte Utz bitter. »Wir waren Nazis. Nazis! Verstehst du das jetzt endlich? Was hast du erwartet? Heimlichen Widerstand? Oppositionelle Gruppen in der Speisekammer? Du bist naiv, Sigrun. Millionen haben das gesungen. Natürlich, nach dem Krieg wollte keiner es mehr gewesen sein. Aber die Tausende im Sportpalast, wo kamen die denn her? Die Hunderttausende auf den Reichsparteitagen, wer waren sie denn? Die Fahnen, die aus jedem Fenster hingen, irgendjemand muss sie ja da hingehängt haben. Das waren wir. Ich war einer von ihnen.«
    Sigrun war anzusehen, dass sie schwer daran zu knabbern hatte. »Du warst elf Jahre alt«, sagte sie noch einmal leise.
    »Ich habe das Horst-Wessel-Lied gesungen«, bekräftigte Utz. »Ich habe an all den Unsinn geglaubt. An die Rassengesetze und die Judenhetze, an all das Untermenschengerede und das Volk-ohne-Raum-Geschwätz. Der totale Krieg – das war nicht nur eine geschriene, ausgespuckte Goebbels-Rede. Das war eine Geisteshaltung, ein Zustand, eine einzige große Gemeinsamkeit. Mein Vater hat schon im Ersten Weltkrieg gekämpft. Der Versailler Vertrag war eine Schande. Also habe ich auch diese Lieder gesungen. Was hätte ich sonst singen sollen? Kirchenlieder? Wir gingen nicht in die Kirche. Religionsunterricht hatte ich nicht. Und für Zarah Leander war ich zu jung.«
    Sigrun nippte an ihrem Cognac. Utz berührte kurz ihre Hand.
    »Es ist bitter für dich, das zu hören. Aber du wolltest sie ja haben, die ganze Wahrheit. Willst du noch mehr?«
    Sigrun nickte. »Ja. Sprich weiter.«
    »Ich wurde krank. Typhus oder Fleckfieber vielleicht. Ich habe gestunken, mich übergeben, das ganze Bett vollgeschissen habe ich. Wir hatten Verbindungen, also bekam ich auch Medikamente. Keine Ahnung, was mit ihnen los war. Gepanscht vielleicht.
Es wurde nicht besser, sondern schlimmer. Ich hatte entsetzliche Schmerzen. Ich rief nach meiner Mutter, aber sie kam nicht. Sie war zwar zu Hause, aber sie hatte Besuch. Sie schämte sich für meine Krankheit und schickte schließlich Paula zu mir. Paula, Natalja, blieb bei mir. Die ganze Nacht. Ich bekam Schüttelfrost. Es wollte nicht mehr aufhören. Ich habe gefroren wie noch nie in meinem Leben. Ich war mir sicher, dass ich sterben musste. Natalja kletterte in mein Bett und nahm mich in den Arm. Sie hat mich die ganze Nacht gewärmt. Und als das Fieber wieder kam, rieb sie mich mit feuchten Tüchern ab. Sie kam zwei Tage lang keine einzige Stunde zum Schlafen. Meine Mutter war in dieser Zeit nicht ein Mal an meinem Bett.«
    Utz verstummte. Wir schwiegen. Er hatte das eigentliche Thema in großem Abstand umkreist, aber er kam ihm näher.
    »So sind wir Freunde geworden«, sagte er schließlich.
    Er machte eine Pause, um nachzudenken, bevor er weitersprach. »Die Freude war nicht von langer Dauer, denn 1943 hatten schon so gut wie alle Schulen geschlossen, und im Sommer darauf entschied Mutter, mich zur KLV zu geben. Kinderlandverschickung.«
    »Nach Leba«, ergänzte Sigrun erleichtert. »Auf das Landgut.«
    »Nein«, antwortete Utz, »in ein Heim. Schlafsäle, Morgenappelle, kilometerlange Märsche in die Sanddünen, Bann- und Gebietssportwettkämpfe, Wehrertüchtigungslager, Sonnwendfeier …«
    »Aber«, sie ihn sah an. »Deine

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