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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Großeltern? Das Gut?«
    Utz lächelte. »Das hat’s nie gegeben. Die ganze wohlhabende Familie der Freifrau von Hollwitz war ein versprengter Haufen armer Kirchenmäuse. Das durfte natürlich niemand wissen. Und deshalb hieß es immer, der Junge ist auf unserem Gut in Pommern. Da war ich zwar auch, aber etwas spartanischer, als dich die verklärten Schilderungen deiner Großmutter vermuten ließen.«

    Arme Sigrun. Noch ein Punkt ihrer Biographie war soeben mit einem Satz ausgelöscht worden. Das hübsche kleine Schlösschen an der polnischen Ostseeküste hatte sich in Luft aufgelöst.
    »Bist du deshalb zurückgekommen? Hast du es dort nicht mehr ausgehalten?«
    »Ja und nein«, antwortete Utz.
    Jetzt spannte er uns auf die Folter. Er war wieder der Herr im Ring. Er drehte das Glas in seiner Hand und starrte auf die goldbraune Flüssigkeit.
    »Ich hatte einen Brief von Natalja bekommen. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft hat, denn es war den Ostarbeitern verboten worden, Briefe und Pakete zu senden. Aber ich habe das Schreiben auf einigen Umwegen bekommen. Darin stand, dass sie meinen Vater gesehen hatte. In Berlin. Im Haus der Lehnsfelds.«
    Er stellte das Glas auf dem Tischchen ab. »Mein Vater galt als vermisst. Und vermisst, das konnte alles bedeuten. Den Tod oder ein Wunder. Plötzlich sollte er wieder da sein. Oktober 1944. Als ich endlich meine Mutter ans Telefon bekam, stritt sie alles ab. Sie war so wütend, wie ich sie noch nie erlebt hatte.«
    Er schwieg wieder einen Moment und schien sich zu sammeln. Schließlich sagte er: »Aus diesem Grund habe ich ihr auch nicht mehr geglaubt.«
    »Und dann bist du losgelaufen«, sagte Sigrun.
    Utz nickte. »Vierhundertsechzig Kilometer. Das Land gab es nicht mehr, es löste sich auf. Und trotzdem wurde auf alles geschossen, was sich von hinten zeigte. Ich sah älter aus als elf. Ich hatte ständig Angst, in irgendwelche letzten Aufgebote geschickt zu werden. Überall schwarze, rauchende Trümmer. Je länger es dauerte, desto erschreckender wurden die Meldungen von der Front. Zwei Monate nach der Invasion war alles zusammengebrochen. Die Sowjetunion eroberte die Krim zurück und stand vor Kiew. Ich wusste, dass Natalja Angst vor den Russen hatte, Angst vor der Rache, dass sie Deutsch sprach und bei Deutschen
gearbeitet hatte. Ich wollte meinen Vater sehen. Und ich wollte sie beschützen. Vielleicht war das sogar das Wichtigste.«
    »Wie ist Natalja nach Grünau zu den Lehnsfelds gekommen? «
    Utz sah überrascht auf. »Sie wurde verliehen. Nicht offiziell natürlich, aber unter der Hand. Wir hatten nicht viel Geld. Das Haus hier war ein feuchter, kalter Kasten, viele Möbel waren bereits auf dem Schwarzmarkt verkauft. Natürlich besaß meine Mutter noch einige Wertsachen. Kleider, Pelze, Schmuck, alles, was man gut tragen konnte, falls es ernst wurde. Und sie besaß etwas Kostbares, das sie ergattert hatte: eine Arbeitskraft, die sie verleihen konnte und Geld oder Lebensmittel dafür erhielt.«
    Ich verschränkte skeptisch die Arme. »Für so viel bedauernswerte Armut seid ihr aber nach dem Krieg ziemlich schnell wieder auf die Beine gekommen.«
    »Meine Mutter hatte die Gabe, sich jeder Situation anzupassen. Auch Amerikaner trugen Uniformen.«
    »Was genau hat Natalja bei den Lehnsfelds gesehen?«
    »Nichts«, sagte Utz kurz. »Ich war selbst mit ihr draußen. In dieser Nacht wurde Berlin wieder bombardiert. Wir haben die Nacht im Keller verbracht. Die Lehnsfelds waren sehr nett zu uns. Das Haus wurde getroffen, aber es gab einen zweiten Ausgang, so dass wir uns alle retten konnten.«
    »Was war in dem Keller?«, fragte ich.
    »Bitte?«
    »Was in dem Keller war? Kannst du dich an irgendetwas erinnern? «
    »Ich weiß nicht mehr. Wasser, Lebensmittel … Kisten natürlich. Lehnsfeld hatte einen großen Teil seiner Einrichtung in den Keller gebracht. Bilder, Möbel … Ist das so wichtig?«
    »Hat Natalja ein Kreuz getragen?«
    Utz dachte nach. »Ja«, sagte er schließlich. »Sie trug ein Kreuz. Ein kleines goldenes. Sehr hübsch. Später hieß es, sie hätte es
Lehnsfeld gestohlen. Ich weiß es nicht. Ich war enttäuscht, weil mein Vater nicht da war. Meine Mutter hat verboten, nach ihm zu fragen. Und dann diese fürchterlichen Luftangriffe. Die Lehnsfelds trösteten Natalja, dass sie ja bald wieder zu Hause sein würde. Wenigstens für sie würde der Krieg ein gutes Ende haben. Das verstörte mich noch mehr. Sie sollte nicht weggehen und mich alleine lassen.

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