Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Senatorin für Jugend und Familie, in eine folgsame, schüchterne Tochter.
»Es sind Menschen umgekommen«, sagte ich leise. »Und weitere schweben in höchster Gefahr. Jetzt, zu dieser Stunde. Was ist damals passiert?«
Utz winkte ab. Seine Augen waren müde, er wirkte ungehalten. Vielleicht aber waren auch nur die Erinnerungen zu anstrengend. Die echten Erinnerungen, nicht die, die er jahrzehntelang abgespult hatte. So lange, bis er sie selbst glaubte.
»Es war Krieg. Ich war ein Kind. Ich habe gejubelt, als marschiert wurde, und ich habe geweint, als die Bomben fielen. Ich habe dumme Lieder gegrölt und eine Menge Schund geglaubt. So lange, bis alles in Schutt und Asche war. Das war es. Das sind meine Erfahrungen. Denkst du wirklich, Sigrun, du könntest sie mit mir teilen?«
»Ich könnte es versuchen.«
»Nichts! Nichts verstehst du! Das kann man nicht verstehen,
wenn man es nicht mitgemacht hat.« Er nestelte in seiner Manteltasche herum und holte sich ein Taschentuch heraus, mit dem er sich die Stirn abwischte. »Noch Fragen?«
Sigrun biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Utz hatte es geschafft, dass seine Tochter sich schämte. Das machte mich wütend. »Warum bist du von Leba nach Berlin zurückgelaufen?«
Utz’ Blick wendete sich von Sigrun auf mich. Seine dunklen, buschigen Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und verfinsterten sein Gesicht. Er funkelte mich böse an. »Habt ihr die Bilder nicht gesehen? Die langen Trecks, die Bombardements auf die Häfen und Schiffe? Die Panzer, die die Pferdekarren niedermähten? Die brennenden Häuser? Die schreienden Frauen und erfrorenen Kinder?«
Ich nickte. »Ich habe die Bilder gesehen. Aber du warst nicht dabei.«
Sigrun entzog mir mit einem Ruck ihre Hand.
»Utz war nicht dabei«, wiederholte ich. »Sag es ihr.«
Ich war mit ihm nicht verwandt. Ich musste kein Mitleid haben. Respekt schon gar nicht. Als Utz schwieg, gab ich die Antwort. »Dein Vater machte sich Ende September, Anfang Oktober 1944 auf den Weg. Es war sicher kein leichter Weg. Du hast Schlimmes erlebt und gesehen. Aber du warst nicht bei den Trecks dabei. Du bist im November in Berlin angekommen, freiwillig, in einer Stadt, die alle verließen. Warum?«
Utz rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Seine Augen hatten sich gerötet. Er antwortete nicht.
»Hatte es etwas mit deinem Vater zu tun?«, fragte ich. »Hat Natalja ihn hier gesehen?«
»Natalja?«, flüsterte Sigrun. »Natalja Tscherednitschenkowa? «
»Alias Paula«, erwiderte ich. »So habt ihr sie doch genannt. Weil es einfacher war und nicht so fremd klang. Wie nennst du sie, wenn du heute an sie denkst?«
Utz sah hinab auf seine Hände und seufzte.
»Gut«, sagte er mit fester Stimme. »Ihr wollt die Wahrheit hören? Die ganze Wahrheit? Ihr werdet sie dann auch aushalten müssen. Bist du wirklich dazu bereit, Sigrun?«
Sie sah so blass aus. So dünn und müde. Aber sie nickte. Ich nahm wieder ihre Hand. Dieses Mal zog sie sie nicht weg.
»Dein Großvater, Sigrun, war ein Fahnenflüchtiger und ein Dieb. Deine Großmutter war eine Hure, die es mit jedem getrieben hat, der eine Uniform trug. Und ich war ein verblendeter, überzeugter Hitler-Junge, der voll hinter Führer und Vaterland gestanden hat. Das ist deine Familie. Ein Haufen egoistischer, gieriger Barbaren. Du bist das erste Gute nach langer Zeit, das wir Zernikows hervorgebracht haben. Willst du das alles wirklich wissen?«
Er stand mühsam auf und ging zu der dunklen Anrichte hinüber. Von einem gedrechselten Aufsatz holte er eine Flasche herunter und goss sich etwas in ein bereitstehendes Glas ein. Er leerte es in einem Zug.
»Lass uns gehen«, flüsterte Sigrun. »Ich halte es nicht aus, ihn so zu sehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Warum bist du zurückgekommen? «
Utz knallte das Glas auf das Tablett. Mit einem Klirren brach der Stiel ab.
»Weil ich Sehnsucht nach zu Hause hatte?«, rief er. »Weil ich mich langweilte? Weil ich meine Mutter vermisste, die froh war, mich nicht mehr zu sehen, damit sie ihre Liebhaber ungestörter empfangen konnte?«
Er riss wütend die Seitentür der Anrichte auf und holte ein neues Glas heraus. Ich stand auf und ging zu ihm. Seine Hand zitterte zu stark, er konnte sich nicht einschenken. Ich nahm ihm die Flasche ab, ein guter alter Cognac, und goss ihm zwei Fingerbreit ein. Er nahm das Glas, ohne mich anzusehen, und
stürzte den Inhalt hinunter. Als er wieder nach der Flasche greifen wollte, zog ich
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